Der Dorfladen in Rössing

Springer Jahrbuch 2015

Helga Fredebold

Zur Geschichte des neuen Dorfladens in Rössing Rnah: Tante Emma war gestern

Als das letzte Lebensmittelgeschäft in der Kirchstraße Nr.10 am 31. Januar 2012 geschlossen wurde, hatte Rössing außer der Schlachterei von Wolfgang Meyer, Bahnhofstr. 9 und einer Bäckereifiliale von Oppenborn aus Schulenburg im gleichen Hause, kein weiteres Geschäft mehr im Ort, wo man den täglichen Bedarf an Lebensmitteln decken konnte.

Im März 2012 unterbreitete Tita Frfr. von Rössing, unsere Ortsbürgermeisterin, uns

ihre Idee mit der Gründung eines neuen Dorfladens auf genossenschaftlicher Basis.

In ihrer mitreißenden Art gelang es ihr, die Dorfbewohner von dem Projekt recht schnell zu überzeugen. Im Oktober wurde eine GmbH gegründet, deren Gesellschafter die Dorfbewohner sind, durch Zahlung einer Einlage von mindestens 100 EU pro Anteilschein. Diese werden treuhänderisch von einem Treugeberbeirat verwaltet. Es wurde eine Summe aufgebracht, die für den Umbau, die Einrichtung und den ersten Wareneinkauf reichte.

Der Ausbau des letzten „Gemischtwarenladens“ in der Kirchstraße 10 wurde mit Elan in Angriff genommen. Unermüdlicher Einsatz, viel Idealismus und finanzielle Zuwendungen der Bevölkerung führten zum Ziel. Da man sparsam mit dem Geld umgehen wollte, wurden auch gebrauchte Materialien verwendet, aber dadurch verzögerte sich die Fertigstellung, so dass man die angepeilten Termine nicht ganz einhalten konnte.

Endlich war es so weit. Am 16. Mai 2014 wurde der neue Dorfladen eröffnet. Mit der Namensgebung Rnah, R – für Rössing und –nah für Nahversorger, haben die Rössinger nicht nur bewiesen, dass sie nicht nur zu einer aussergewöhnlichen Gemeinschaftsleistung fähig sind, sondern dass sie auch einen ganz besonderen Sinn für Humor haben.

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Wenn die Rössinger Männer nun in Zukunft zu Rnah gehen, dann hat das absolut nichts Anrüchiges an sich, sondern sie gehen ganz brav einkaufen.

Denn dieses zentral gelegene Haus in der Kirchstraße Nr.10 hat Tradition, schon seit über 100 Jahren werden in diesem Haus Lebensmittel verkauft.

Die Kirchstraße Nr. 10 hat die alte Hausnummer 112. Was es mit den alten und neuen Hausnummern auf sich hat, ist den älteren Dorfbewohnern oft noch bekannt, aber den jüngeren kaum, wenn sie in alten Familienpapieren darauf stoßen. Die alten Hausnummern sind die Versicherungsnummern der ersten Brandkasse, die König Georg III, König von England und Kurfürst von Hannover etwa 1760 zwangsweise einführte, damit bei den zahlreichen Bränden, die häufig ganze Dörfer einäscherten, die Bevölkerung nicht total verarmte. Diese Versicherungsnummern der Brandkasse wurden die Hausnummern. Sie mußten deutlich sichtbar außen am Hause angebracht werden, damit man das Haus im Notfall auch schnell fand und jedes neu erbaute Haus erhielt die nächst höhere Versicherungs- bzw. Hausnummer, in Rössing waren es 191.

Erst als nach dem Zweiten Weltkrieg etwa 1950 für die Unterbringung der vielen Vertriebenen aus den verlorenen Ostgebieten ganze Neubauviertel entstanden, wurden Straßennamen eingeführt und jede Straße bekam eigene Hausnummern, die mit Nr. 1 begannen.

Das Haus Nr. 112, (Kirchstraße Nr. 10) wurde zwischen 1867 und 1878 von Friedrich Haller erbaut, der darin einen „Galanteriewaren und Hokenhandel“ betrieb. Es ist etwa 140 Jahre alt und hatte aber sicher schon einen Vorgänger. Friedrich Haller gehörte zu der Familie Haller, die im „Adeligen Krug“, der später „Gasthaus zum Löwen“ hieß, Kirchstraße 21, eine Gastwirtschaft und einen Getreidehandel betrieb. Man erkennt es noch an der Dachgaube, wo früher die Kornsäcke hochgezogen wurden.

Friedrich Haller verkaufte einmal das, was wir heute als Kurzwaren bezeichnen, also normalen Nähbedarf wie Steck- und Nähnadeln, Nähgarn, Zwirn und Knöpfe. Aber darüber hinaus führte Friedrich Haller Galanteriewaren, das sind Tressen, Spitzen, Bänder, Paspel, Schmuckelemente für den gehobenen, eleganten Zierrat für festliche Damenkleider oder Hüte. Die Kleider wurden damals noch zu Hause von der Hausfrau oder einer Hausschneiderin angefertigt, die von Haus zu Haus zog, und da bestand Bedarf für solche Artikel. Die ersten Kaufhäuser, die auch fertige Damen- oder Kinderkleider anboten, entstanden erst später, etwa um 1900 in Berlin.

Und „Hokenhandel“ war eigentlich ein „Kiepenhandel“, und der Betreffende hatte eine Konzession, dass er über Land fahren und seine Waren auch in andern Orten anbieten durfte.

Wie lange genau Friedrich Haller seine Galanteriewaren dort verkaufte, wissen wir nicht. Aber schon vor über 100 Jahren, im Reichsadressbuch von 1908, wurde in diesem Haus ein Georg Beneke als Inhaber eines Gemischtwarenladens aufgeführt. Dieser Georg Benecke war allerdings kein Verwandter von der Familie Beneke, die heute im Loderwinkel 3 wohnt.

Unter einem Gemischtwarenladen verstand man aber nicht nur Lebensmittel, sondern eigentlich war es schon ein Supermarkt im Kleinen, nur mit einem völlig anderen Angebot als heute. Zucker stand im Sack herum. Mehl, Nudeln, Graupen und Sago wurden lose in Schubladen aufbewahrt und auf einer Tafelwaage mit kleinen Gewichten in Papiertüten abgewogen, nichts war fertig abgepackt. Außerdem gab es Kernseife, Schmierseife, Soda zum Geschirrabwaschen, Schuhkrem und Zündhölzer, Maggi, das aus einer großen Flasche abgefüllt wurde und Glaszylinder für Petroleumlampen und dazu das notwendige Petroleum. Denn elektrisches Licht gab es erst nach 1911 in Rössing und noch längst nicht für alle Haushalte. So lange hatte man auf dem Lande nur Kerzen oder Petroleumlampen als Beleuchtung, daher die vielen Brände durch offenes Licht.

Oft wurden diese Geschäfte auch Kolonialwarenläden genannt, weil sie Kaffee, Kakao, Tee oder auch Reis und andere Waren verkauften, die aus den überseeischen deutschen oder ausländischen Kolonien stammten.

Allerdings hatte Georg Beneke auch 1908 schon Konkurrenz im Dorf. Außer ihm gab es noch drei andere „Gemischtwarenläden“, wie sie sich damals nannten. Das waren

Nolte, in der Kirchstraße 2, später war der „Konsum“ in diesem Laden, danach Ruhkopf. Außerdem gab es Runne, Kirchstraße 14, und Speckesser in der Langen Straße 12, den später die Tochter Frau Petsch von ihren Eltern übernahm.

Wie weit sich diese Geschäfte von einander unterschieden, oder ob alle das gleiche Angebot hatten, können wir heute nicht mehr feststellen.

Jedenfalls existierten sie alle noch nach 1945.

Pläne im Zweiten Weltkrieg

Im Kriegsjahr 1940 kam ein Auswärtiger ins Spiel, Wilhelm Moldenhauer aus Nordstemmen. Seine Vorfahren betrieben seit 1887 im Stammhaus in Nordstemmen, in der Hauptstraße Nr. 113 einen Gemischtwarenladen und einen Hokenhandel in der Umgebung, wo man die Waren bestellen konnte, die dann in die anderen Dörfer ausgeliefert wurden. 1935 übernahm Wilhelm Moldenhauer in der dritten Generation die Firma in Nordstemmen.

Er wollte das „Überlandfahren“ aufgeben, aber trotzdem das Geschäft ausweiten. Er plante die Gründung einer Filiale und kaufte im Kriegsjahr1940 in Rössing das Haus von Georg Beneke, Kirchstraße Nr. 10. Aber der Krieg machte alle Pläne zunichte. Er mußte Soldat werden und kehrte aus Stalingrad nicht zurück.

Nachkriegszeit

Nach dem Krieg war das Haus mit Flüchtlingen und Vertriebenen vollgestopft, wie alle Häuser in dieser Zeit. Im Gemischtwarenladen von Georg Beneke im Erdgeschoß verkaufte Frau Härke Milch, die lose ausgeschenkt wurde. Sie wohnte Kirschenbrink 5. Ihr Schwiegersohn Karl Richter war Milchfahrer und seine Frau Marla, geb. Härke wurde von der Gemeinde als Leiterin der Gemeinschaftsküche Ende 1946 fest angestellt und half beim Milchverkauf mit aus.

Bis zum Herbst 1947 war die Einwohnerzahl in Rössing von 1168 vor dem Krieg auf 2390 gestiegen, und Frau Härke wollte im Dorf eine zweite Milchverkaufsstelle einrichten, denn Tetrapack und H-Milch waren noch unbekannt. Doch das wurde von der Gemeinde nicht für erforderlich gehalten. Um eine schnellere Abwicklung zu ermöglichen, sollte Frau Härke ihr Personal aufstocken. Später errichtete sie dann die „Milchhalle“ an der Feuerwache, die inzwischen zu einer „Pizzabäckerei“ umfunktioniert wurde.

Erika Moldenhauer, als Kriegerwitwe mit zwei kleinen Kindern, konnte die Pläne ihres gefallenen Mannes mit einer Filiale in Rössing vorerst nicht verwirklichen.

Aber sie packte beherzt an, resolut war sie, und erweiterte in den folgenden Jahren das Nordstemmer Geschäft räumlich, personell und leistungsmäßig bedeutend.

Als dann im Jahr 1949 die Wohnungskommission in Rössing in ihrem Haus in der Kirchstraße 10 Räume für ein Gemeindebüro beschlagnahmen wollte, was sich aber zerschlug, bekam sie unter großen Schwierigkeiten die Räume für die Einrichtung eines Kolonialwarengeschäftes frei und ein Geschäftsführer, bzw. Pächter stand auch schon bereit, Hermann Raupach, den viele im Dorf noch kennen.

Im Juli1946 war seine Frau Edith Raupach mit vier Kindern als Vertriebene aus Neuhammer Kreis Bunzlau/Schlesien in Wohnräume im Geschäftshaus der Familie Moldenhauer in Nordstemmen eingewiesen worden. Ein paar Wochen später kam der Familienvater Hermann Raupach aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück, glücklich, daß er seine Familie wiedergefunden hatte. Er bekam auch gleich Arbeit bei „Landmaschinen-Müller“, die im gleichen Hause wohnten und nach drei Jahren wurde er als Verkäufer im Moldenhauerschen Laden eingestellt, als Vorbereitung für die Übernahme der Rössinger Filiale.

Hermann Raupach war gelernter Bäckermeister und Konditor und hatte in Schlesien schon seit 1930 eine Bäckerei mit Kolonialwarengeschäft betrieben. Er pachtete ab Januar 1950 den Moldenhauerschen Laden in Rössing. Die Familie mit inzwischen fünf Kindern bekam erst im Mai 1951 In Rössing Wohnraum durch Tausch zugewiesen, aber der Betrieb ließ sich sehr gut an.

Erneuter Wechsel

Inzwischen wuchsen die beiden Kinder von Frau Moldenhauer heran und der Sohn Peter machte eine kaufmännische Ausbildung mit der Absicht, das Geschäft in Rössing zu übernehmen.

1959 war es so weit. Familie Raupach hatte noch nicht mit so einem schnellen Wechsel gerechnet und davon war wohl auch bei Abschluss des Pachtvertrages nicht die Rede gewesen. Aber Raupachs hatten schon Pläne für den Neubau eines Hauses mit Laden in der Bahnhofstraße Nr.12, die nun schnellstens realisiert werden mussten. Noch im gleichen Jahr 1959 zog die Familie um und Hermann Raupach eröffnete dort selbst ein Lebensmittelgeschäft. Anfangs waren sie freie Händler, schlossen sich aber später der „Rewe-Gruppe“ an.

Viele Jahrzehnte versorgten er und seine Frau und später Tochter Renate Böger, geb. Raupach, die Bewohner vor allem in den ringsum entstandenen Neubaugebieten mit den Dingen des täglichen Bedarfs.

Aber die steigende Mobilität der Dorfbewohner änderte auch ihr Einkaufsverhalten. Die Supermärkte, die in den umliegenden größeren Orten allmählich entstanden, zogen viele Kunden ab. Als Renate Böger das Rentenalter erreicht hatte und kein Pächter zu finden war, gab sie das Geschäft am 30. April 2008 auf. Für die Rössinger war es ein herber Verlust. Denn Renate Bögers Laden war nicht nur ein Geschäft, in dem man seine Einkäufe tätigte, sondern auch ein sozialer Treffpunkt. Dort traf man seine Nachbarn, konnte mal ein paar Worte wechseln und Frau Böger hatte für jeden ein offenes Ohr und ein freundliches Wort.

Junge Leute am Ruder

Als Peter Moldenhauer am 14. März 1959 das Geschäft von seiner Mutter in der Kirchstraße übernahm, hatte er große Pläne gehabt. Fünf Monate dauerte der Umbau zu einem modernen Selbstbedienungsladen. Während dieser Zeit fand der Verkauf in der ersten Etage statt, bis am 20. August 1959 die Eröffnung des neuen Geschäftslokals erfolgte. Er führte den Laden etwa zwei Jahre. Aber dann entdeckte er, dass so ein Lebensmittelgeschäft auf dem Dorfe doch nicht sein Lebensziel wäre und er begann ein Studium.Frau Erika Moldenhauer führte nun zusammen mit Ingrid Schwick, einer Kusine, die schon seit 1954 bei ihr arbeitete und ihre „Rechte Hand“ im Geschäft war, den Nordstemmer und den Rössinger Laden bis etwa 1973 weiter.

Die Lichter gehen aus

Dann wollte sich Frau Moldenhauer zur Ruhe setzen und das Rössinger Geschäft wurde geschlossen. Die Geschäftsräume In Rössing ließen sich als Ladenlokal nicht wieder vermieten. Da schloss Frau Moldenhauer für die Räume einen fünfjährigen Mietvertrag mit der Gemeinde Nordstemmen ab, die darin einen Kinderspielkreis einrichten wollte. Aber diese Pläne zerschlugen sich, weil die erforderlichen Umbauarbeiten zu teuer geworden wären. Eine andere Nutzung ergab sich nicht, so blieben die Räume fünf Jahre ungenutzt und die Gemeinde mußte fünf Jahre die Miete dafür bezahlen.

Neuanfang

Erika Moldenhauer verkaufte nun das Haus Kirchstraße 10 in Rössing an Frau Ingrid Borsum, die dort im November 1978 einzog und am 1.März 1979 wieder ein Lebensmittelgeschäft eröffnete. Familie Borsum hatte das Grundstück daneben dazugekauft um den Laden zu vergrößern, und die Außenfront wurde neu gestaltet.

Wenn man so lange ein Geschäft hat, erlebt man auch allerlei. Ein treuer, wenn auch nicht unbedingt der Lieblingskunde, war Friedel Koch, Hofbesitzer und Sattler in der Kirchstraße Nr. 12. Viele Ältere unter Ihnen werden sich noch an ihn erinnern, und an seine häuslichen Verhältnisse und seine Viehhaltung. Er war nicht verheiratet und lebte allein. Er hielt sich immer gern lange im Laden bei Frau Borsum auf. Er suchte Gesellschaft, redete viel mit den anderen Kunden und wenn er dann endlich ging, mußte erste einmal die Türe weit aufgerissen und gelüftet werden, damit wieder frische Luft in die Räume kam.

Von 13 bis 15 Uhr war Mittagspause und der Laden geschlossen. Als Frau Borsum einmal das Geschäft um 15 Uhr wieder öffnen wollte, stand schon ein Mann mitten im Laden mit einer Bierflasche in der Hand, da hatte sie vergessen, die Tür abzuschließen. Aber es war ja gut ausgegangen.

Ein anderes Mal ging es nicht so glimpflich ab. Während der Urlaubszeit, als Familie Borsum verreist war, wurde eingebrochen. Aber die Täter hatten es nur auf die Zigaretten und Alkoholika abgesehen, alles andere hatten sie nicht angetastet. Aber der sonstige Sachschaden schlägt ja auch zu Buche.

20 Jahre lang hielt Frau Borsum die Stellung in ihrem Selbstbedienungsladen. Aber für die kleineren Lebensmittelmärkte wurde es immer schwieriger. Die großen Supermärkte mit ihrem „Rundum“-Angebot machten ihnen das Leben schwer.

Frau Borsum meldete das Geschäft nach 20 Jahren zum 31.Mai 1999 ab und verkaufte das Haus per 1. Juni 1999 an Frau Gudrun Akthar, die dort seitdem ein kleines Gemischtwarengeschäft betrieb. Wegen des umfangreichen Ausbaus der Kirchstraße 2008/9 war ihr Geschäft über ein Jahr lang praktisch nicht mit dem Auto und zu Fuß nur unter Schwierigkeiten zu erreichen. Es gelang ihr nicht, die Durststrecke zu überwinden und das Angebot war wohl auch nicht so das Richtige. Jedenfalls schloss sie das Geschäft am 31. Dezember 2011.

Ein neuer Dorfladen

Nun bemüht sich die Dorfgemeinschaft, in dem Hause Kirchstraße Nr. 10 einen „Dorf- Laden“ auf genossenschaftlicher Basis in Gang zu bringen, Rnah nicht nur anzuschieben, sondern sie auch am Laufen zu halten. Es ist schon sehr viel Arbeit geleistet. Aber auch in Zukunft ist freiwilliger Einsatz in der Geschäftsführung, beim Treugeber-Beirat und bei der Vertretung der Anteilseigner nötig, damit das Projekt auf Dauer den Erfolg hat, den wir uns alle wünschen.