Das Bierbraurecht in Rössing

Seit „ondencklichen“ Zeiten gilt herrschaftliches Bierbrau-Recht

Springer Jahrbuch, Helga Fredebold

Schon im 12. Jahrhundert fand das in Rössing hergestellte Bier in einer Hebeliste des Klosters Helmarshausen an der Diemel eine frühe schriftliche Erwähnung. Das Kloster Helmarshausen besaß in Rössing eine bedeutende Fronhofswirtschaft und wenn der Abt dreimal im Jahr nach Rössing kam, um die Abgaben einzusammeln, mußte er hier drei Tage mit 12 Knechten und ihren Pferden beherbergt und mit Met und Bier versorgt werden.

Bier spielte in der Ernährung, bevor man Tee und Kaffee oder Kaffeersatz kannte, eine viel wichtigere Rolle als heute. Und zwar weniger als Genußmittel, sondern als täglicher Durstlöscher neben Milch und Buttermilch, denn das Brunnenwasser war meist ungenießbar.

Durch Zufall würziges Bier

Die Qualität dieses Bieres war aber kaum mit der heutigen zu vergleichen. Im Museumsdorf Cloppenburg wird die Herstellung eines solchen einfachen Dünnbieres beschrieben:

In ein halb Meter hohes, nach oben verjüngtes Faß mit Spundloch über dem Boden werden 10 Pfund gesäuertes Schwarzbrot zu einem Viertel mit warmen und zu drei Viertel mit kaltem Wasser übergossen. Nachdem das Fass luftdicht verschlossen und der Aufguss zwei Tage gegärt hat, kann gezapft werden.

So oder ähnlich durfte auch hier die hochmittelalterliche Braukunst ausgesehen haben.

1516 erließ der Bayerische Landtag sein berühmtes Reinheitsgebot, dass außer Wasser, Hopfen und Gerste keine weiteren Zutaten zur Bierherstellung verwendet werden dürften.

Im Calenbergischen wurde der Ruf des Bieres erst besser, als Cord Broyhan 1526 in Hannover zum ersten Mal durch Zufall ein würziges Bier von guter Qualität herstellte, als er versuchte, ein Hamburgisches Bier nachzubrauen. Er war Brauknecht in Hamburg gewesen und sein Broyhan-Teiken (Zeichen) kennt jeder Hannoveraner.

Auch Ihnen ist der Hahn nicht neu, der Broyhan ist’s von Gildebräu.

1546 gründeten hannoversche Bürger die Gildebrauerei, in der bis zum Jahre 2002 der Broyhan gebraut wurde. Dann wurde das Unternehmen an den internationale Konzern InBev verkauft, und seitdem schwebt über der Zukunft dieses althannoverschen Traditionsbieres ein großes Fragezeichen.

Strenges Bier- und Schankrecht

Schon früh hatten die Landesfürsten die Brauhoheit an sich gezogen. Brau- und Schankrecht waren besondere Privilegien und wurden von den Welfenfürsten streng geregelt.

In einem fürstlichen Dekret von 1643, also unmittelbar, nachdem für die welfischen Lande der 30jährige Krieg durch den Separatfrieden von Goslar zu Ende gegangen war, wurde noch einmal darauf hingewiesen, dass „eigenmächtiges Bier- und Broyhanbrauen zu feilem Kauf auf den Doerffern“ verboten ist.

Es wird verwiesen auf den Gandersheimer Landtsagabschied von 1601, weil bei diesen „schnoeden und zerruetteten Kriegslaeuften, da fast alle gute Polizey und Ordnung aus der Acht gesetzet worden, das Winkelbrauen zu feilem Kauff haeufig eingerissen.“

Porst, ein schädliches Kraut

1710 wurde den Pächtern des Brauwesens bei strenger Strafe verboten, beim Anbrauen des Bieres „ein gewisses Kraut namens Post (auch Porst oder Rausch genannt) zuzusetzen, weil es dem Getränk eine ungemeine und schadhafte Stärke giebet.“

Wer als Brauknecht (ohne Wissen des Brauherren) diesem Verbote zuwider handelte, sollte mit ewiger Landesverweisung bestraft werden.

Wir, Georg Ludewig von Gottes Gnaden Hertzog zu Braunschweig und Lüneburg / des Heiligen Römischen Reichs Ertz=Schatzmeister und Churfürstfügen hiermit zu wissen; Demnach Uns mißfälligst vorkommen, was gestalt hin und wieder in Unseren Landen bey Anbrauung des Biers ein gewisses Kraut / Post benahmt, von betrügerischen eigennützigen Leuten häuffig gebraucht werde, welches von der Eigenschaft seyn soll, daß es dem Geträncke eine ungemeine und schadhaffte Stärke gebe und auch diejenige, so nur in geringer Quantität davon genossen, schleunig berausche; Wir aber solchem Unwesen also länger nachzusehen und desto weniger gemeinet, als dadurch dem menschlichen Cörper leichte Ungelegenheit zugezogen, auch sonst allerhand Unfall und Böses verursachet werden kann. Als ordnen und wollen wir hiemit und in Krafft dieses, daß

I kein Brauer sich unternehmen solle, solches Kraut, oder wodurch sonst dem Bier eine ungewöhnliche Stärcke gegeben wird, unter einigerley Vorwandt zu kauffen,oder in seinem Hause finden zu lassen, bei fünffzig Thaler Straffe. Würde sich aber

II jemand gelüsten lassen, solches ins Bier zu geben , und er dessen über kurtz oder lang überführet werden, soll derselbe ohne eintziges Nachsehen, und etwan anzunehmende Entschuldigung, auf Zeit Lebens der Brau=Gerechtigkeit verlustig erkläret, auch überdem, wann dadurch jemand an seiner Gesundheit gelitten, ohnausbleiblich am Leibe gestraffet, und zu Ersetzung alles sonst dadurch erwachsenen Schadens angehalten werden. Sollte aber

III jemand sein Brauwesen oder Brau=Gerechtigkeit verpachtet haben, und es sich finden solte, daß es mit seinem Wissen und Genehmhaltung nicht geschehen, so hat obermedlte Straffe an ihn nicht statt, der Pächter aber soll nebst Privirung der habenden Pacht, und Ersetzung des etwan entstandenen Schadens, mit einer ansehnlichen Geldbusse, auch wohl dem Befinden nach Leibes=Straffe beleget, und auf Zeit=Lebens zu keinem Brauwerck wieder gelassen werden. Würde auch

IV ein Braumeister/Brauknecht, oder ander desBrauherrn domestique sich unterstehen, dergleichen ohne Wissen und Verlangen des Brauherrn vorzunehmen, soll derselbe mit ewiger Landes-Verweisung, diejenigen aber, welche sich durch Anreitzungen der Brauherren dazu verleiten lassen, mit zehn=tägiger Gefängnüße bestrafft werden. Und damit dieses desto besser zu jedermanns Wissenschaft kommen möge, soll es nicht allein gewöhnlicher Orten öffentlich angeschlagen und von den Cantzeln verlesen, sondern denen Brauern, Braumeistern, Brauknechten, auch andern, welche zum Brauen berechtigt, davon ein Exemplar zugestellt und bei allen und jeden Zusammenkünfften der Brauer deutlich und vernehmlich hergelesen werden. Befehlen demnach allen und jeden, welche in Unserm Nahmen zu gebieten und verbieten haben, daß sie sich darnach gebührend achten, deßfalls fleißige Auffsicht führen, und öffters visitiren lassen, auch gegen die Contravenienten ihres Ambts gebührend pflegen sollen. Uhrkundlich haben Wir dieses Eigenhändig unterschrieben und mit Unserm Churfürstl. Geheimbten Cantzley=Secret bedrucken lassen. ^

Hannover, den 20. Augusti 1710,

LS Georg Ludewig/ Churfürst

1723 wurde die Verordnung noch verschärft. Übeltäter sollen angezeigt werden und der Denunziant 20 Taler Belohnung erhalten. Sein Name soll verschwiegen, und der Täter mit Festungshaft betraft werden.

Das Erntebier

Zwar durfte auf den Kot- und Meierhöfen, soweit sie über 12 Morgen bewirtschafteten, zwischen dem 24. Juli und dem 25. August das Erntebier für die Leute gebraut werden, aber die Menge war genau vorgeschrieben. Nach einem fürstlichen Erlaß von 1713 durfte nicht mehr Bier als von einem halben Himpten Malz gebraut werden, die Menge pro Morgen war auf anderthalb Stübchen (1 Stübchen 3,89 Liter) begrenzt. Alle vier Monate sollten die Licentinspektoren auf den Höfen kontrollieren, ob nicht zu viel Bier gebraut wurde.

Alle, die berechtigt waren, ihr „Hausgetränk“ licentfrei zu brauen, wie Prediger, Schulbediente, Voigte oder Förster, sollten sich bei Strafe unterstehen, etwas davon zu verkaufen oder anstatt Bezahlung für Handwerkerrechnungen oder Spinn- und Arbeitslohn abzugeben. Das „versellen“ (verkaufen) war allein den „Krügern“ vorbehalten.

Das Nebeneinander zweier Herrschaftsbereiche im Dorfe prägte nicht nur seine Geschichte, sondern war auch die Ursache für die Existenz zweier Krüge in Rössing.

Da war auf der einen Seite das Gut der Herren von Rössing, die gleichzeitig Grundherr, Leibherr und Gerichtsherr ihrer Gutsuntertanen in einer Person waren, eine Konstellation, die heute von jedem Gericht als Befangenheit abgelehnt würde. Sie waren seit „ohndencklichen“ Zeiten mit dem herrschaftlichen Privileg des Braurechts, des „Jus braxandi“ ausgestattet, was ihnen 1676 noch einmal ausdrücklich bestätigt wurde.

Der licentfreie „Adelige Krug“, wo das Bier gebraut wurde, befand sich nahe dem Schloß, an der Ecke „Unter den Eichen“, heute Kirchstraße 21 (früher Hausnr.97). Ein Gewölbekeller aus Bruchsteinen mit in die Wand eingelassener Lichtnische und einem schmalen Außenschacht liegt in der Mitte des Gebäudekomplexes und dürfte der älteste Bauteil des Kruges sein. Der gutseigene Hopfengarten am Jägerweg lieferte den notwendigen Hopfen und bis vor einigen Jahren soll man dort noch verwilderte Hopfenpflanzen gefunden haben. Als der „Adelige Krug“ 1981 seine Pforten für immer schloß, hieß er allerdings „Zum goldenen Löwen“ und war schon lange nicht mehr im Besitz der Herren von Rössing.

Blutige Schlägerei

Aber vorher war er Schauplatz mancher tragikomischen Geschichte. So ist es heute noch aktenkundig, dass 1648 des „Junkers Hofmeister, der in Junkers Kneipe gesessen und gesoffen hatte“ vom Calenberger Amtsvoigt „gefenglich“ weggeführt werden sollte, weil er dem Krüger von Jeinsen, der mit seinem Wagen und einem Pferd über des Junkers frisch gepflügtes Land gefahren war, um dem Calenbergischen Wegezoll zu entgehen, nach landesüblichem Brauch ein Pferd gepfändet hatte. Des Junkers Krüger mit dem bloßen Degen und sein Hofgesinde griffen ein und es gab eine blutige Schlägerei, die vor dem fürstlichen Hofgericht noch ein Nachspiel hatte, denn die Angelegenheiten der Adelligen Herren wurden vor dem Hofgericht verhandelt und nicht vor dem Amtsgericht wie bei dem Normalbürger.

Im Jahr 1767 vergab A.F. von Rössing „wegen des hiesigen geringen Brauwesens

seine Braurechte gegen Zahlung von zwei Louisdor (zehn Reichstalern) jährlich an die Calenbergische Amtsbrauerei. Der „Adelige freie Krug“ wurde an Erich Garben verpachtet, der jährlich zwei Reichstaler Erbenzins dafür zahlte.

In der napoleonischen Zeit wurde unter anderem auch die Patrimonialgerichtsbarkeit der Herren von Rössing aufgehoben. Aber bei der nachfolgenden Restitution wurde ihnen 1848 die niedere Polizeigewalt wieder übertragen. Wohl um Gewissenskonflikte zu vermeiden, holte man sich für dieses Amt einen Ortsfremden von weither aus dem Emsland. Zu seinen Aufgaben gehörte vor allem:

das Aufsichtführen im Kruge und im Holze, auf Sittlichkeit und gute Ordnung ein wachsames Auge richten und vor allem im Adeligen Wirtskruge nachsehen, dass kein schlechtes Gesindel aufgenommen und beherbergt werde. Verdächtige ohne Pass sind zu arretieren und keine verbotenen Spiele zu dulden. Nach 10 Uhr abends sind keine Gesellschaften im Kruge oder sonst polizeiwidrige Zusammenkünfte zu gestatten. Beim Krüger sind Masse und Gewicht der Krugnahrung zu kontrollieren und ob die diesbezüglichen Polizeigesetze befolgt werden.

Offenbar war abends um 22 Uhr bereits Polizeistunde.

Gesellschaftlicher Wandel und dörfliche Vergnügen

Zum Kruge gehörte eine kleine Landwirtschaft etwa in der Größe einer Köthnerstelle, (ca. 20 Morgen), dazu Stall und Scheune. Im nördlichen Teil wurde ein Saal angebaut, in dem man bei Renovierungsarbeiten die Jahreszahl 1854 entdeckte. Nun gab es auch Tanzvergnügen dort und hier fanden die Gemeinderatssitzungen statt, später im Wechsel mit dem andern Dorfkrug „Rodewald“.

Der Krug hieß nun Brandscher und dann Kreipescher Krug. Von 1880 bis 1971 befand sich das Gasthaus im Besitz der Familie Haller und ihrer Nachfahren, die dort außerdem einen Getreidehandel betrieben. Über dem Saal war der Kornboden, was man noch an der Aufzuggaube erkennen kann.

Nach der Heirat einer Haller-Tochter im Jahr 1913 betrieb das Ehepaar Haller-Caspaul die Gaststätte gemeinsam, und in den 1930er Jahren wurde sie verpachtet. Der Pächter Heise war Mitglied der SA und in der NS-Zeit wurde sie Stammlokal der SA. Darauf folgte der Pächter Willenbrink, und als 1951 die Familie Georg Hübner aus Löwenberg in Schlesien den Betrieb pachtete, gehörten auch Fremdenzimmer und eine Kegelbahn dazu. Das Gasthaus hieß nun „Zum goldenen Löwen“. Außer Kegeln, Tanz und sonstigen Vergnügen fand dort auch Turnunterricht für die Kinder statt.

1971 konnten Hübners den Betrieb kaufen, aber schon 10 Jahre später starb Georg Hübner und seine Witwe veräußerte das Grundstück mit den Gebäuden. Seit 1981 ist es nur noch Wohnhaus und im Besitz von Dr. Gerhart Unterberger.

Der zweite Dorfkrug

Da Rössing neben dem Adeligen Gut eine zweite Verwaltungseinheit hatte, nämlich die calenbergische Vogtei Rössing, war es folgerichtig, daß es auch einen zweiten Dorfkrug gab. Dieser mußte sein Bier von der herrschaftlichen Amtsbrauerei beziehen und war einer der 20 Zwangskrüge im Amt Calenberg.

Von 1768 bis 1802 hatte der Köthner Hans Heinrich Blume, Rössing Nr. 15, jetzt Lange Straße 7, die „Krugnahrung“ vom Amte Calenberg gepachtet, was alle vier Jahre meistbietend erfolgte. Als im Jahre 1802 der 24jährige Sohn Johannes Heinrich Julius Blume in Vertretung seines todkranken Vaters zur Versteigerung erschien, ließ er sich in seiner jugendlichen Unerfahrenheit auf 48 Reichsth. hochtreiben. Als nach einem halben Jahr der Vater starb, bat er in einem flehentlichen Brief den Amtmann um Reduzierung des Pachtgeldes auf 20 Rthl. jährlich, wie sie der Vater zuletzt bezahlt hatte.

Der Krug in Jeinsen bezahle nur 18 Rthl. und habe doch viel mehr Passage durch reisende Gäste, was er nicht zu erwarten habe. Sein Vater habe sein bescheidenes Vermögen auch nicht im Kruge, sondern als Alleininhaber des Garn- und Hokenhandels verdient und sei zudem durch einen Banquerotteur in Hildesheim darum betrogen worden.

Aber das Amt wollte die Pacht nicht senken, sondern ihn allenfalls nach einem Jahr aus dem Vertrag entlassen. Doch weil der junge Mann nicht wußte, wie er sonst seine unmündigen Geschwister versorgen sollte, und das Haus mit allem Inventar zur Wirtschaft eingerichtet war, führte er den Krug weiter, ging dabei in Konkurs und verkaufte Haus und Grundstück an Schlachter Schreyer in Jeinsen. 1806 ging dann beides in den Besitz des jüdischen Kaufmanns Nathan Schay-Neuberg aus Sarstedt über, der den Hokenhandel von Vater Blume weiter führte.

Wechselnde Pächter

Die Kruggerechtigkeit im Dorf wechselte nun ständig. Seit 1806 mußte der Köthner Conrad Köhler 60 Rthl. Pacht zahlen. Nach seinem Tode bewarb sich der Köthner Heinrich Blume (Haus Nr. 46) darum und 1816 war Conrad Brandes Krugpächter. Eingaben wegen zu hoher Pachtsummen schmetterte das Amt einfach ab und warf den Pächtern „schlechte Wirtschaft“ oder „Liebe zum Trunke“ vor. Dazu muß gesagt werden, dass die französische Besatzung hohe Kontributionen verlangte und das Dorf durch den großen Brand von 1808, der das halbe Dorf in Schutt und Asche legte, zusätzlich verarmt war. So lag das Krugwesen ziemlich darnieder.

Als um 1860 der Rodewald-Dettmersche Hof, die Doppelköthnerstelle 39/40 neu gebaut wurde, pachtete die Familie für die mehrjährige Bauzeit das gegenüberliegende

Haus Nr. 37, das die Kruggerechtigkeit innehatte. Beim Umzug in den Neubau wurde die Konzession mitgenommen und die Familie Rodewald betrieb neben ihrer Landwirtschaft über 100 Jahre eine renommierte Gastwirtschaft, die 1898 durch einen großen Festsaal erweitert wurde. Dort verkehrten hauptsächlich die Bauern und Handwerksmeister und viele große Hochzeiten fanden dort statt. Eine Kegelbahn war ein weiterer Anziehungspunkt.

Ab 1. Januar 1965 war die Gaststätte an Annie und Wilhelm Biermann verpachtet, bis sie 1979 geschlossen wurde. Damit ging wieder ein Stück Rössinger Tradition zu Ende.

Inzwischen hatte sich in der Langen Straße 22 noch eine Gaststätte etabliert, der eine Postagentur angegliedert war. Sie wurde von Familie Reitzig betrieben und war das Vereinslokal des 1897 gegründeten Sportvereins. Aber als Rodewald seinen Saal gebaut hatte, der auch als Turnhalle benutzt wurde, zogen die Sportler nach dorthin um.

Das Haus Reitzig wurde 1909 an Bäckermeister Hermann Dollenberg verkauft, der neben seiner Bäckerei Gaststätte und Post bis zum ersten Weltkrieg weiter betrieb. Damals hatte sie als Attraktion sogar ein Billardzimmer. 1914 verkaufte er die Konzession für (für 8.500 Mark) und das Inventar (für 2.250 Mark) an den Posthalter und Kohlenhändler Gustav Ehlers im Haus gegenüber, der beides weiterführte, als er aus dem Kriege heimkehrte, den er als Soldat der Kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Südwest-Afrika (heute Namibia) erlebte.

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Moderne Zeiten

Die Eheleute Ehlers starben 1953/54 und hinterließen einen Sohn Siegfried, der noch nicht volljährig war. Aber er wurde vom Gericht 1955 mit knapp 20 Jahren für mündig erklärt und konnte das Gasthaus, in dem er drei Gastzimmer einrichtete, und den Kohlen- und Brennstoffhandel seiner Eltern weiterführen.

Aber mit der zunehmenden Qualität des Flaschenbieres und dem Aufkommen des Fernsehens brachen schlechte Zeiten für die Wirtshäuser an. Zunächst hatten sie noch Zulauf, wenn sie einen Fernseher hatten und die Leute dort Sport- oder Unterhaltungsprogramme ansehen konnten. Aber als jeder selbst sein Heimkino hatte, reduzierte sich die Zahl der Lokale, und 1963 schloß Siegfried Ehlers seine Gaststätte.

Gastwirtschaft Barsch

Bis 1983 gab es noch eine alte Dorfkneipe in der Maschstraße 35, wo vorwiegend der Mittelstand verkehrte. Der Wirt war Robert Barsch, der gerne mal mit seinen Gästen Skat spielte.

Bis in die 1930er Jahre war hier für die männlichen Mitglieder der jüdischen Schlachtersfamilie Blumenthal von gegenüber, ebenso sozialer Treffpunkt wie für den Rest der Einwohner des Dorfes. So schreibt Werner Blumenthal in seiner Familienchronik (2003), wo er von den Ferienbesuchen bei seinen Großeltern und deren erwachsenen Söhnen in Rössing berichtet. Diese Großeltern Moritz (1858 – 1930) und Sophie Blumenthal (1866 – 1930) sind die letzten, die auf dem jüdischen Friedhof noch friedlich beerdigt sind.

Zu Beginn der 1970er Jahre übernahm Familie Beelte für einige Jahre die Gaststätte Barsch, bis sie sich 1974 mit einem neuen Restaurant und Kegelbahn in der Straße „Zum Klay“ selbstständig machte. Danach wechselten die Pächter kurzzeitig, einer davon hieß Meyer, ein anderer war Jochen Hacke, ein junger Mann. Es kann sein, daß es noch ein anderer Pächter versuchte, oder daß die Räume zwischenzeitlich als Wohnräume genutzt wurden. Jedenfalls eröffnete Dr. med. Uwe Gronau, Facharzt für Allgemeinmedizin, nach einem großen Umbau am 1. Juli 1983 in den Räumen der ehemaligen Gaststätte Barsch seine Praxis. Dort hatte sie bis 1992 ihr Domizil, bis Dr. Gronau sie in sein neu erbautes Haus in der Clausstraße Nr. 2 verlegte.

Doch mit des Geschickes Mächten…

Ecke Kirch- und Maschstraße (heute Konstantki) existierte nach dem Kriege eine Kneipe, die Stefan Sambolski und danach Christel Moses mit ihrem Mann bewirtschafteten. Aber wie lange sie dort schon bestand, als Ruth und Kurt Gebhardt sie im Jahre 1968 pachteten, war nicht zu ermitteln. Im Herbst 1971 brannte das Lokal ab, ein Schwelbrand hatte ein Feuer entfacht und vernichtete die Gaststätte.

Das Ehepaar Gebhardt baute daraufhin in seinem Wohnhaus Maschstraße 21 die unteren Räume zu einer Gastwirtschaft um und eröffnete sie im Sommer 1972. Nach 11 Jahren verpachteten sie diese an einen Herrn Jennett, der aber schon drei Jahre später verstarb. Von 1983 bis 1986 übernahm sie Herr Prambucka als Pächter und von April bis Oktober 1987 führten Ruth Gebhardt und ihre Tochter Julia noch einmal Regie, aber dann schloß das Lokal seine Pforten. Die Räume wurden umgebaut und das Haus dient seitdem nur noch Wohnzwecken.

Die Danziger Stuben

Familie Beelte baute 1974 an der Straße „Zum Klay“ eine neue Gaststätte mit Kegelbahn und einem Saal. Viele Familienfeste, Vereinsversammlungen und -feiern und der obligatorische Trauerkaffee nach der Beerdigung fanden dort statt. Beeltes bauten Duschen für die Sportler des nahen Sportplatzes ein, die anschließend ihren Durst im Lokal löschten. Aber als die Sportler ein eigenes Sportheim bauten, wurden die Duschen nicht mehr gebraucht.

1989 wurde Frau Beelte sehr krank und mußte aufgeben. Beeltes verkauften alles an ihren Bierlieferanten Sauk in Harsum, und von diesem pachtete Familie Eberhard Asche-Jost aus Hannover die Gaststätte für fünf Jahre. Aber die Glanzzeit war vorüber. Das Dorfgemeinschaftshaus in der alten Schule zog viele Veranstaltungen an sich, die früher in der „Kneipe“ stattfanden. Die ständig verschärften Alkoholverbote taten das Ihre.

Doch dann kaufte Familie Ludwig die Gaststätte mit Wohnhaus und Kegelbahn und führte sie15 Jahre, vom Januar 1995 bis 2010. Herr Ludwig stammte aus Danzig und so nannten sie die Gaststätte in Erinnerung an ihre alte Heimat „Danziger Stuben.“ Das war eine gute Idee, so mancher Passant stutzte, hielt an, weil er an seine Heimat erinnert wurde und kehrte ein. Frau Jadwiga, Wirtin aus Passion, und eine gute Küche taten das Ihre, alles lief gut.

Vorher hatten Ludwigs eine Gaststätte in Himmelsthür betrieben- und das Leben eines Wirtes ist anstrengend. Aus gesundheitlichen Gründen schlossen sie den Betrieb zum 1. Januar 2010, obwohl Frau Jadwiga vielleicht ganz gerne noch ein bißchen weiter gemacht hätte, weil ihr der Beruf Spaß machte und sie gerne Menschen um sich hat.

Olav Büsing pachtete die Gaststätte und taufte die „Danziger Stuben“ um in „Olavs Büro“.

Aber das war nur eine Episode, er blieb nicht einmal zwei Jahre.

Am 1.12.2011 pachtete Heiko Hecht von „Alt Rössing“ die ehemaligen „Danziger Stuben“ von Familie Ludwig für größere Veranstaltungen und die Kegelrunden. Auch er hat nach kurzer Zeit wieder geschlossen. Nun befindet sich ein Autohändler in der umgebauten Räumlichkeiten.

Die Turnhallen-Gaststätte „Zum Dorfbrunnen“

Als sich 1978 der Herzenswunsch der Turner erfüllte und die Turnhalle gebaut wurde, gehörte natürlich auch eine Vereinsgaststätte dazu.

Die erste Pächterin war Annie Biermann mit ihrem Mann Wilhelm. Nachdem Rodewald geschlossen hatte, übernahmen sie vom 1.1.1978 bis 1.3.1980 die Gastronomie.

Danach folgte Gisela Gebhardt bis 1985 und dann Ehepaar Hannke bis zum Februar 1991.

Seitdem hat die Familie Tietke die Bewirtschaftung übernommen. Das Lokal hat inzwischen auch einen Namen bekommen. Da es auf dem Gelände eines alten Fischteiches steht.

Im „Dorfbrunnen“ versorgt Familie Tietke die Rössinger nach ihrem Sport mit Speis und Trank. Auch der neugegründete Tennisverein, der direkt daneben liegt und 1989 seinen Spielbetrieb aufnahm, profitiert davon.

Die junge Generation hat 2011 die Arbeit übernommen und Kerstin Tietke führte den Betrieb. Heute ist er nun noch das Sportheim der VSV Rössing und Übungsort der Darts Spieler. Man kann den Raum zur Selbstbewirtung für Feierlichkeiten mieten.

Das „Rössinger Bierstübchen“ und „Alt Rössing“, heute das Akkurat Hair Beauty & Café

In der Friedrichstraße Nr. 8 war viele Jahrzehnte die Schlachterei Küke ein Begriff.

Als 1982 der Junior Werner Küke den Betrieb übernahm, gehörten auch schon andere Lebensmittel als Fleischwaren zum Sortiment. Aber das Aufkommen der Supermärkte schreckte ab. Die jungen Leute entschlossen sich zu einem radikalen Umdenken und bauten die Räumlichkeiten zum „Rössinger Bierstübchen“ um.

1987 wurde Annie Biermann die erste Pächterin, vielen noch aus ihrer Zeit in der Rodewaldschen und der Turnhallen-Gaststätte bekannt. Sie hielt 11 Jahre durch, bis zum 31.12.1998.

Danach kam Gisela Gebhardt für sechs Jahre. Markus Roland, ihr Nachfolger, verpaßte dem „Bierstübchen“ einen neuen Namen, er nannte es „Alt Rössing“. Aber trotzdem faßte er nicht richtig Fuß.

Nach vier Jahren, am 18.Februar 2008, übernahm Heiko Hecht „Alt Rössing“. Dieser zog 2023 in neue Räumlichkeiten auf das Rittergut 1 in den alten Pferdestall, dieser wurde im Jahr 2022 aufwendig von Louis von Rössing saniert und renoviert.

Quellen: Helfrich Bernhard Wenck, Hessische Landesgeschichte Bd.2, UB, Heberolle u. Gefälle des

Klosters Helmarshausen, Frankf.Leipzig 1789

NHSA Hann.74 Cal Nr. 291, 294, 730, 731, 739, 1120.

Der gemeine Kasten

Helga Fredebold Rössing, den 01.01.2018

Schon zur Lutherzeit gab es den gemeinen Kasten, so wurde er genannt. Dabei wurde das Wort gemein nicht im Sinne von niederträchtig gebraucht wie heute, sondern es stand für allgemein, der Gemeinde- oder Allgemeinheit gehörig.

In diesem Kasten wurde das Geld für die Versorgung der Armen und Kranken in der Gemeinde gesammelt, denn es gab noch keine Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Jede Gemeinde musste für ihre Armen selbst aufkommen, für die Menschen, die alters- oder krankheitshalber nicht arbeiten konnten. Betteln in den Nachbargemeinden war verboten. Aber wo das Geld aufbewahren? Man hatte ja noch kein Bankschließfach. Als der sicherste Ort erschien die Kirche.

Diese Armenkästen hatten je nach Größe der Gemeinde drei oder vier Schlösser. Der Rössinger Armenkasten hatte drei. Der stabile hölzerne Kasten auf vier Beinen hat am Deckel zwei eiserne Riegel für Vorhangschlösser und vorn in der Mitte ein weiteres normales Schloß. Für jedes Schloß dieser Armenkästen gab es nur einen Schlüssel. Damit kein Unbefugter den Kasten öffnen und sich den Inhalt aneignen konnte, wurden sie an unterschiedlichen Orten aufbewahrt. Einen Schlüssel hatten die Altar- oder Altermänner, das war der Kirchenvorstand. Einen weiteren hatte der Gemeinderat und den dritten die Bauerschaft und nur gemeinschaftlich konnte man den Kasten öffnen und über das Geld verfügen.

Im Jahre 2016 wurde der Rössinger Armenkasten auf Kosten der Kirchenstiftung schön restauriert und der schäbig gewordene weiße Anstrich entfernt. Er steht nun wieder in unserer Kirche und wartet auf Spenden. Das Geld muß nicht mehr ausschließlich für das tägliche Brot unserer Alten und Kranken verwendet werden, sondern kann auch für andere Bedürftige und sonstige diakonische Projekte der Kirchengemeinde eingesetzt werden. Auf jeden Fall bleibt es in Rössing und wird nicht abgeführt wie das Geld aus dem Klingelbeutel, das für überörtliche Zwecke der Diakonie verwendet wird. Und drei Schlüssel brauchen wir auch nicht mehr.

Über das Alter unseres Armenstocks geben die Inventarbücher unserer Kirchengemeinde Auskunft.

In dem Inventarbuch von 1896 wird ein Armenstock ohne jede weitere Anmerkung aufgelistet. Dagegen findet sich im Inventarbuch von 1902 auf Seite 13 unter der Nummer 50 die Eintragung:”Ein Armenstock mit 2 Vorhangschlössern.” Daneben steht unter der Spalte Bemerkungen die Notiz: “alt, schon 1734 erwähnt.” Und das ist natürlich ein ganz wichtiger Hinweis. Denn dann ist der Armenkasten jetzt, im Jahre 2018, schon 284 Jahre alt, und damit schon 34 Jahre älter als unsere Kirche, die erst 1750 erbaut wurde. Das bedeutet, dass dieser Kasten bereits in dem alten Vorgängerbau unserer Peter- und Paulskirche Dienst getan hat und sicher 300 Jahre und wahrscheinlich noch viel älter ist.

Die Zeit des Dritten Reiches von 1933 bis 1945 in Rössing

von Helga Fredebold 

 

Teil 1

Ich bin Jahrgang 1926 und in der Diktatur groß geworden, aber da lernt man kein kritisches Denken, man nimmt hin, wie es ist. Und als ich mit den Recherchen über dieses Thema begann, stellte ich fest, dass ich über die politischen Vorgänge in jener Zeit außer ein paar Schlagworten sehr wenig wusste. Aber die Beschäftigung damit war ungeheuer fesselnd und interessant. Bücher  und vor allem das Internet mit seinen Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung halfen mir weiter. Der Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, mit welcher Zielstrebigkeit, Rücksichtslosigkeit und welchen Tricks Hitler die Diktatur errichtete und dass er eigentlich überhaupt kein Geheimnis aus dem machte, was er vorhatte. Er wollte die Demokratie vernichten, er wollte die Macht im Reich, und zwar für sich allein, er wollte die Diktatur, er wollte den Krieg, und er wollte die Juden vernichten – und das alles stand in seinem Buch „Mein Kampf“, das er schon 1925 geschrieben hatte.

Das heißt, dass es eigentlich jeder hätte wissen müssen, wenn man es denn gelesen hätte, was uns bevorstand, aber die Menschen haben es nicht richtig zur Kenntnis genommen, bis auf einige wenige.

Um die Zeit von 1933 bis 45  zu verstehen, kann man nicht erst mit dem 30. Januar 1933 beginnen. Unsere Politiker haben Recht, wenn sie kritisieren, dass manche deutschen Geschichtslehrer den ersten Weltkrieg 1914 bis 1918 auslassen, um die 12 Jahre von 1933 bis 1945 mit dem Zweiten Weltkrieg um so ausführlicher zu behandeln. Aus dem Ersten Weltkrieg entstand der Zweite.

 

Nach dem ersten Weltkrieg

Der verlorene Krieg 1918, die russische bolschewistische Revolution drohte nach Deutschland überzuschwappen, der Versailler Vertrag brachte schon damals Gebietsverluste in Oberschlesien.
Westpreußen, Memelland und Elsass-Lothringen wurden abgetrennt. Die wirtschaftlich unerfüllbaren Reparationsforderungen der Siegermächte waren eine untilgbare Schuld, die von vorn herein als politisches Instrument konstruiert war. Der vorhersehbare Zahlungsverzug lieferte dann 1923 den Franzosen auch den Vorwand für die Besetzung des Ruhrgebietes mit seiner Schwerindustrie, eindeutig mit dem Ziel der Trennung des Rheinlandes von Deutschland, was allerdings England und die USA letzten Endes verhinderten:
Im Reich folgten Aufruhr und Mobilmachung, denn die Menschen waren noch Patrioten. Auch in Hannover wurde damals ein Studentenbataillon aufgestellt und mein Schwiegervater, der damals in Hannover studierte, sollte es ins Rheinland führen. Es existiert noch eine Fotografie, wie er hoch zu Ross, mit der Truppe an General Hindenburg vorbeizieht, der die Einheit verabschiedet. Aber Gottseidank kamen sie nicht mehr zum Einsatz.

Bis zum Jahre 1988 sollten von Deutschland jährlich 2 Milliarden Goldmark Reparationen aufgebracht werden. Angesichts der Unmöglichkeit, diese Summen zu erwirtschaften, reduzierten die Alliierten diese 1932 auf eine Restzahlung von 3 Milliarden, die aber nie geleistet wurde.

Interessant ist noch, dass die Kredite, die Deutschland damals zur Bezahlung von Reparationen auf dem internationalen Finanzmarkt aufgenommen hatte, 1953 nach dem Zweiten Weltkrieg erneut Verhandlungsgegenstand waren. Damit Deutschland am internationalen Börsengeschäft teilnehmen kann, müssen diese Auslandsanleihen wieder bedient werden, wobei die Tilgung noch bis zum Jahr 2020 andauert. Wir zahlen also indirekt heute noch für die Reparationen aus dem Versailler Vertrag.

Durch die Inflation war alles private Geldvermögen dahingeschmolzen. Die Massenarbeitslosigkeit und die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise verschärfen die sozialen und politischen Spannungen in der Weimarer Republik. Die Menschen waren wirklich arm, die Arbeitslosenunterstützung war minimal. Einer der es erlebt hat hier im Dorf, berichtete mir, dass eine vierköpfige Familie 5 Reichsmark pro Woche erhielt. Der dauernde Wechsel der nicht tragfähigen Regierungen, das Parteiengezänk, Deutschland wurde von einer Notverordnung zur andern regiert, und die wirtschaftliche Depression führten zu einem schnellen Anwachsen der rechtsextremen Kräfte. Im Oktober 1931 schließen sich die NSDAP, Hitlers nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei, und die Deutsch-Nationale Volkspartei sowie der Stahlhelmbund zum Kampf gegen die Republik zusammen. Durch geschicktes Lavieren zwischen den Gruppen gelingt es Hitler, schließlich zur politischen Schlüsselfigur zu werden. In dieser Zerrissenheit der politischen Landschaft der Weimarer Republik kam dann der Ruf nach dem „Starken Mann“ auf, dessen Gefährlichkeit die meisten aber total unterschätzten. Und Hitler präsentierte den Menschen Schuldige für die soziale Not: Das Versailler Diktat und die Juden.

Er forderte die Wiederherstellung der deutschen Ehre durch Aufhebung des Friedensvertrages von Versailles, der kein Vertrag war sondern ein Diktat. Er forderte Gleichberechtigung gegenüber anderen Völkern, Zusammenschluss aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu einem Großdeutschland und Wehrhoheit für das deutsche Volk.

In seinem Parteiprogramm fordert er gleiche Rechte und Pflichten für alle, Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens, Gewinnbeteiligung an Großbetrieben, großzügigen Ausbau der Altersversorgung und Stärkung des Mittelstandes, sofortige Auflösung der Großwarenhäuser, von denen viele in jüdischer Hand waren, und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende. Und vieles andere mehr. Das sprach natürlich die notleidende Bevölkerung und vor allem den Mittelstand an.

Mit seiner Verteufelung der Juden schürte Hitler den Antisemitismus, der in allen europäischen Ländern latent vorhanden war, was die zionistische Bewegung von Theodor Herzl für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina schon im 19. Jahrhundert zur Folge hatte. Aber darauf komme ich später noch.

Der letzte der 25 Punkte von Hitlers Parteiprogramm lautete: Zur Durchführung alles dessen fordern wir: „Die Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches. Unbedingte Autorität des politischen Zentralparlaments über das gesamte Reich und seine Organisationen im Allgemeinen.“

Und das bedeutete die Diktatur.

 

Hitler wird Reichskanzler

Zwar unterliegt Hitler Hindenburg in den Reichspräsidentenwahlen 1932, aber die NSDAP steigt in diesem Jahr zur stärksten Partei auf. Damit ist die Übertragung der Macht an Hitler eigentlich nur eine Formsache. Am 30. Januar 1933 beruft Hindenburg Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler. Und damit war Deutschlands Weg in die Diktatur vorgezeichnet.

General a. D. von Ludendorff, richtete damals an Hindenburg die prophetischen Worte:

„Sie haben durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler unser heiliges deutsches Vaterland einem der größten Demagogen aller Zeiten ausgeliefert. Ich prophezeie Ihnen feierlich, dass dieser unselige Mann unser Reich in unfassbares Elend bringen wird. Kommende Geschlechter werden Sie wegen dieser Handlung im Grabe verfluchen.“

Hitler hatte kein Geheimnis daraus gemacht, was er wollte, sondern es weit verbreitet, man hatte es nur nicht richtig zur Kenntnis genommen. Am 30. Januar 1933 sagte er beim Betreten der Reichskanzlei, die er nie vorher betreten hatte:

„Keine Macht der Welt wird mich jemals lebend hier wieder rausbringen.“

Und so geschah es dann ja auch. Am 30. April 1945 starb er dort durch Gift und durch eigene Hand.

Aber am 30. Januar 1933 jubelten die Menschen erst einmal. Die Fackelzüge und Demonstrationsmärsche, die in Berlin von den Braunhemden der SA, von Zivilisten und kleineren Stahlhelm-Gruppen zur Reichskanzlei, an Hitler vorbeiführten, wurden in vielen Dörfern und Städten imitiert. 1933 war das Jahr der nationalen Erhebung.

Der Reichstagsbrand in Berlin, vier Wochen später am 27. Februar, wurde, obwohl nie richtig aufgeklärt, allein dem Kommunisten Marianus van der Lubbe in die Schuhe geschoben. Am nächsten Tag hob die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat und zur Abwehr kommunistischer, staatsgefährdender Gewaltakte die meisten der verfassungsmäßigen Grundrechte auf. Sie begründete einen permanenten zivilen Ausnahmezustand, der es dem NS-Regime ermöglichte, Unterdrückungsmaßnahmen gegen politische Gegner mit dem Schein der Legalität zu umgeben, sie konnten ohne Anklage und Beweise in gerichtlich nicht kontrollierbare Schutzhaft genommen werden. Es folgte eine wüste Verfolgung der Kommunisten und anderer missliebiger Personen bis hin zum Mord. All diese Verbrechen fielen nach dem 30. Juni 1934 („Röhm-Putsch“), nach der Nacht der langen Messer, in der Oppositionelle in den eigenen Reihen der SA und in der Politik liquidiert wurden, unter eine Amnestie und damit war es mit der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland vorbei.

Am 20. März 1933 hatte Himmler schon das erste Konzentrationslager in Dachau eröffnet, kurz darauf das in Sachsenhausen.

Am 11. März erfolgte die Einrichtung eines Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda: Minister wurde Dr. Joseph Goebbels. Die propagandistischen Verführungskünste, die dieser meisterhaft beherrschte, zusammen mit der nationalen Erlösungs- und Veränderungserwartung des Publikums, die Flucht in den nationalen Mythos, der Personenkult um den Retter und Führer waren Instrumente einer unglaublichen Masseneroberungspolitik.

Dann folgte der 21. März 1933, der von Goebbels in der Garnisonkirche äußerst erfolgreich inszenierte Tag von Potsdam mit der konstituierenden Sitzung des Reichstags, ohne SPD und Kommunisten. Er zeigt Hitler bei seinem einzigen Auftritt in ziviler Kleidung, wie er sich respektvoll vor dem Reichspräsidenten von Hindenburg in kaiserlicher Uniform verneigt. Wir alle kennen dieses Bild. Diese Geste sollte die Harmonie zwischen dem alten Deutschland und der jungen Kraft, Hitlers NS- Bewegung demonstrieren, was auch im In- und Ausland seine Wirkung nicht verfehlte.

Aber Hitler hatte schon seinen nächsten Coup vorbereitet.

 

Das Ermächtigungsgesetz

Zwei Tage später, am 23. März, stimmte der Reichstag, nunmehr in der Kroll-Oper, unter der einschüchternden Gegenwart von bewaffneten SA und SS-Verbänden über das Ermächtigungsgesetz ab, das der Regierung gestattete, ohne die Zustimmung von Reichstag und Reichsrat und Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten, Gesetze zu erlassen.

Eigentlich war für die Annahme dieses Gesetzes eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Aber durch eine trickreiche Änderung der Geschäftsordnung, der alle Parteien zugestimmt hatten, mit Ausnahme der SPD, die ausdrücklich auf die Gefahr eines Missbrauchs hingewiesen hatte, wurde das Gesetz angenommen.

Die verfolgten Mitglieder der KPD und teilweise auch der SPD fehlten naturgemäß unentschuldigt bei dieser Sitzung, aber sie wurden kurzerhand als anwesend erklärt und damit fehlten ihre Gegenstimmen, so dass die Zweidrittelmehrheit zustande kam.

Das Ermächtigungsgesetz selbst war nun keine Erfindung von Hitler.

So wurde in der Hälfte der Amtszeit des ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert von 1919 bis 1924 mit Ermächtigungsgesetzen regiert. Diese Gesetze waren befristet.

Auch das Gesetz vom 23. März 1933 war zunächst auf 4 Jahre begrenzt, wurde aber mehrfach verlängert. Am 10. Mai 1943 wurde dann durch einen Führererlass eine Aufhebung dieses Gesetzes auf Dauer untersagt, und es blieb bis zum Ende des NS-Regimes im Mai 1945 rechtliche Grundlage deutscher Gesetzgebung.

Hitlers erstes Ziel mit diesem Gesetz war die Ausschaltung des Parlaments. Deutschland sollte von Hitler allein regiert werden, das heißt, alle Gesetze waren Führerbefehle.

Zweites Ziel war die tatsächliche Außerkraftsetzung der bis zuletzt unverändert gebliebenen Verfassung, die aber nicht annulliert wurde.

Drittens sollte der Schein von Legalität gewahrt bleiben. Zwischen Recht und Gesetz sah man keinen Unterschied, was Gesetz war, war auch Recht.

 

Zunächst ging es aufwärts

Zunächst ging es aufwärts, aber was diese Machtfülle in der Hand Hitlers und seiner Partei für katastrophale Folgen hatte, übersahen nur wenige, denn zunächst ging es aufwärts.

Die sofort eingeleiteten Maßnahmen stabilisierten sehr schnell die wirtschaftlichen Verhältnisse. Noch in der Weimarer Republik war 1932 zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein freiwilliger Arbeitsdienst ins Leben gerufen worden, der mit der Durchführung gemeinnütziger Projekte einer Reihe von Arbeitslosen und Wohlfahrtsempfängern für längere Zeit Arbeit mit Schippe und Schubkarre und etwas Verdienst bringen sollte. In diesem Rahmen wurde in den Gemeinden Nordstemmen, Rössing und Schulenburg das Minthefurchenprojekt realisiert. Es wurde eine Wassergenossenschaft gegründet zur Entwässerung von Ländereien in der Leineniederung, die jedes Jahr unter großen Hochwasserschäden litten. Die 50 bis 60 Leute waren so von der Straße, verdienten 15 Mark die Woche und diese Maßnahme wurde als großer Segen empfunden. Die Arbeiten dauerten bis ins Frühjahr 1933.

Die Nationalsozialisten griffen die Idee mit dem Reichsarbeitsdienst auf, statt Arbeitslosengeld gab es Lohn für gemeinnützige Arbeit.

Der Rössingbach wurde dann vom 1935 eingeführten uniformierten Reichsarbeitsdienst reguliert. Dieser war zunächst auch freiwillig, wurde dann aber Pflicht und war gedacht für die 18 bis 25-jährigen arbeitslosen Jugendlichen ohne Lehrstelle und Ausbildungsplatz, die auch viel beim Autobahnbau eingesetzt wurden. Der bereits seit 1926 bestehende Verein zur Vorbereitung der Autostraße Hansestädte – Frankfurt – Basel, die sog. HAFRABA hatte detaillierte Pläne für den Autobahnbau ausgearbeitet, die sie Hitler 1933 vorlegte. Dieser ließ die HAFRABA gleichschalten, übernahm deren Pläne und setzte sie sofort in die Tat um. So war das mit den Straßen des Führers.

Der RAD, der Reichsarbeitsdienst, sollte außerdem zur Erziehung der Arbeitsmoral und der Aufhebung der Klassengegensätze dienen und die befriedigende Wirkung von harter körperlicher Arbeit betonen und war natürlich schon eine körperliche Vorbereitung auf den kommenden Militärdienst und Krieg.

In der aus dem Boden gestampften Rüstungsindustrie gab es jede Menge Arbeitsplätze und ich war überrascht, wie viele Rüstungsbetriebe es allein im Raum Hildesheim gab. Hier wurden u. a. Torpedos, Granaten, Panzer- und Flugzeugteile hergestellt. Aber die Menschen waren froh, dass sie Arbeit und Brot hatten. Mit dem Großkapital, der Rüstungsindustrie hatte sich Hitler sofort nach dem 30. Januar verbündet.

Mit dem Gesetz vom 7.4.1933 für die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das den Ausschluss von Nichtariern und Oppositionellen beinhaltete, wurden neue Arbeitsplätze geschaffen. Bevorzugt wurden bei der Neubesetzung der Stellen Parteigenossen. Innerhalb eines halben Jahres waren 70 % der „Alten Kämpfer“, die sich um die Bewegung verdient gemacht hatten, wieder in Lohn und Brot. Und von diesen Maßnahmen profitierten auch eine ganze Reihe Einwohner in Rössing.

Daher wurden die meisten dieser Entwicklungen von 95% der Bevölkerung bejaht, weil sie einer ersehnten Einheit der Gesellschaft, der Volksgemeinschaft, dienten. Zudem verbanden sie sich in den ersten Jahren mit einem deutlichen wirtschaftlichen Aufstieg und einem eindrucksvollen mentalen Aufbruch, z.B. Erntedankfeiern, Sportfeste, die Olympiade 1936, oder die Reichsparteitage in Nürnberg weckten Begeisterung. Gerade die Reichsparteitage mit der mystischen Totenehrung für die Gefallenen der „Bewegung“, sollten „Heerschau der ganzen Nation“ sein und glanzvoller als der Reichstag der alten Kaiser. Wenn 150 Flakscheinwerfer in den Himmel schossen, einen Lichtdom bildeten und 30 000 Fahnen flatterten und 600 Fanfaren ertönten, konnte sich keiner dem Eindruck von Macht und Größe entziehen.

Im Übrigen hielten die Nazis mit niedrigen Steuern und Sozialreformen das Volk bei Laune.

 

Das Erbhofgesetz und der „Reichsnährstand“

Das Ansehen des Bauernstandes und der Landarbeit wurde aufgewertet und das Erbhofgesetz sicherte durch Entschuldungsmaßnahmen den Bestand der alten Höfe. Diese wurden dem Anerben, in der Regel dem ältesten Sohn, ungeteilt vererbt. Es wurde zwei Tage vor dem Erntedankfest 1933 erlassen und war Ausdruck der nationalsozialistischen Blut- und Boden-Ideologie. Ein Erbhof sollte mindesten 7,5 ha, eine Ackernahrung umfassen, so groß dass sich eine Familie darauf ohne Nebenverdienst und unabhängig vom Markt ernähren konnte und sollte nicht größer sein als 125 ha. Das Erbhofgesetz stützte sich rechtshistorisch stark auf das alte hannoversche Meierrecht. Schon im Hochmittelalter stellte eine Hufe oder 30 Morgen, gleich 7,5 ha die Existenzgrundlage für eine halbfreie Hörigenfamilie dar und hatte somit die ursprüngliche Größe einer Köthnerstelle. Heute hat man da ganz andere Maßstäbe.

Der Erbhofeigentümer wurde per Gesetz als Bauer, alle andern als Landwirt bezeichnet. § 13 besagte: Bauer kann nur sein, wer deutschen oder stammesgleichen Blutes ist, nicht, wer unter seinen Vorfahren väter- oder mütterlicherseits jüdisches oder farbiges Blut hat. Er musste ehrbar, politisch zuverlässig und rasserein sein und seinen arischen Stammbaum bis 1800 nachweisen können, um „zum Blutquell des deutschen Volkes“ gehören zu dürfen, so pathetisch drückte man sich aus. Die Erbhofbauern durften allerdings auch keine Hypotheken aufnehmen, Neuverschuldung war nicht gestattet. Dadurch fehlten aber die Mittel, um die Betriebe durch die Anschaffung von Maschinen zu modernisieren.

Die Osthilfe förderte durch staatliche Maßnahmen die bäuerliche Siedlungspolitik im Osten, indem sie Gutsbesitzer mit mehreren Gütern, wenn sie hoch verschuldet waren, zum teilweisen Verkauf zwang, um bäuerliche Hofstellen zu schaffen. Den Großgrundbesitz wollte man zwar nicht fördern, er blieb aber ansonsten trotz gegenteiliger Versprechungen unangetastet. Marion Gräfin Dönhoff und Alexander Fürst zu Dohna schreiben in ihren Ostpreußenbüchern auch ausführlich über diese Maßnahmen der Osthilfe, die ebenfalls schon in der Weimarer Republik angelaufen war.

Jeder Ort erhielt seinen Ortsbauerführer, der raten und helfen sollte, in Rössing war das Friedrich Kämpfer. Es erfolgte eine beinahe mystische Erhöhung von Grund und Boden und bäuerlicher Arbeit. Hier ein Auszug aus einem Gedicht für eine Erbhoffeier von 1937:

Behalt den Hut in deinen Händen
Und tritt voll Ehrfurcht in das alte Haus.
Von jeder Truhe an den schweren Wänden
Strahlt wunderbar ein Hauch der Liebe aus.
Hoch unterm Dache hängt der Ahne Spindel
Am blassen Bande eine Locke Flachs.
Ein Kreuz von Elfenbein und eine Windel.
Die Erbverbriefung mit dem Siegelwachs.
Aus steifen, rußgeschwärzten Rahmen
Seh‘n die Verstorbenen auf dich zurück.
Sag in die Stille dankbar ihren Namen,
Und streichle die Gewänder Stück für Stück.
Wenn wir vorüber sind, die Mauern
Bestehn, so Gott es will die ferne Zeit –
Und schützen das Geschlecht der deutschen Bauern
Von Anfang bis in Ewigkeit.  –  Amen


Und wenn man denn daran denkt, wie Adolf Hitler das Volk verraten hat und wie als Folge seiner wahnsinnigen Eroberungs- und Machtpolitik die Hälfte der deutschen Bauern enteignet wurde.

Aber wenn auch die Blut- und Bodenpropaganda ein rosiges Bild vom Bauern- und Schwertadel malte, konnte sie nicht verhindern, dass die jungen, nicht erbberechtigten Bauernsöhne abwanderten, um in der Stadt leichtere und besser bezahlte Arbeit zu finden. So litt der Reichsnährstand, wie die NS-Gesamtvereinigung der Bauern und Landarbeiter hieß, während der Erzeugungsschlacht, auch so ein Schlagwort, um die Selbstversorgung des Reiches unter akutem Arbeitskräftemangel. Aber ein prähistorischer, arischer Bauernstaat mit unveränderlicher Sozialordnung und Volksbräuchen mit rassenideologischen Merkmalen passten eben nicht zu beschleunigter Industrialisierung zum Zwecke der Aufrüstung. In der Versorgung der Großstadtbevölkerung vor allem mit Molkereiprodukten klafften Lücken. Butter war schon vor dem Kriege Mangelware. Schon bald hieß es: „Kanonen statt Butter.“

Wie grundlegend sich die Situation der Landwirtschaft allerdings in den letzten 20 – 30 Jahren gewandelt hat, das hätte sich vor 70 Jahren auch niemand vorstellen können. Die im Dritten Reich geförderten Neusiedlerstellen für die weichenden Erben der Höfe hatten auch nur eine Durchschnittsgröße von 12,5 ha, also 50 Morgen. Sie hätten heute, ebenso wie die alten bäuerlichen Klein- und Mittelbetriebe, von denen 55 %, vor allem in Süd- und Westdeutschland weniger als 5 ha hatten, keine Überlebenschance mehr.

 

Die Gleichschaltung 1933

Aber zurück zu den rein politischen Vorgängen. Denn sofort nach Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933, das im Wesentlichen die Notverordnungen vom 28. Februar zum Inhalt hatte, und mit dem Hitler sich von allen Bindungen an die Verfassung und von der parlamentarischen Kontrolle befreit hatte, war durch eine Reihe von Gesetzen die Auflösung der Länderparlamente erfolgt. Mit dieser so genannten Gleichschaltung der deutschen Länder, der Verwaltung und der Justiz, der Presse, der Künste, der Wissenschaft, der Lehrerverbände, der Wohlfahrtsvereine, des Sportes, bis hin zum kleinsten dörflichen Gesangverein wurde der zentralistische Einheitsstaat eingeführt, alle Dachverbände der genannten Institutionen erhielten ihre Weisungen jetzt zentral von der Reichsregierung, verkörpert durch Hitler und die NSDAP, sie alle wurden NS-Verbände.

Dann wurde vier Wochen später, am 22. Juni 1933 die SPD im ganzen Reich verboten. Kurz darauf lösten sich alle anderen politischen Parteien selbst auf. Drei Wochen später wurde dann das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien erlassen, und die NSDAP war nun die einzige zugelassene Partei in Deutschland, alle anderen waren verboten.

In dem am 1. Dezember 1933 erlassenen Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat wurde der Einparteienstaat rechtlich verankert.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die wenigen Augenzeugen, die ich über die Vorgänge in Rössing noch befragen konnte, ein und dieselben Vorgänge ganz unterschiedlich darstellten. Darum habe ich mich bei meinen Recherchen hauptsächlich auf schriftliche Berichte aus dieser Zeit verlassen: Gemeinderatsprotokolle, die Schulchronik und Akten aus Vereinen und Verbänden.

 

Die Auflösung des Gemeinderates 1933

Ein bedeutsames Ereignis in der Rössinger NS-Geschichte war gleich 1933 die Auflösung des Gemeinderates, der letzten frei gewählten Gemeindevertretung des Dorfes.

Schon die letzte Landtagswahl vor Hitler im Jahre 1932, zeigte die politischen Machtverhältnisse in Rössing.

Laut Wahlzettel gab es 21 politische Parteien, die aber nicht alle in Rössing vertreten waren.

Von 709 abgegebenen Stimmen waren:

296  für die SPD                                                                41,7 %
293  für die NSDAP (Hitlerbewegung)                          41,3 %
48    für die Deutschnationale Volkspartei,                   6,8 %
die zusammen mit dem Stahlhelm
         die Kampffront Schwarzweißrot bildete
         und die NSDAP unterstützte

24  für die Kommunisten                                                  3,4 %
20  für die Deutsch-Hannoversche,                                2,8 %
die Welfenpartei

Und ebenso waren auch die Mehrheitsverhältnisse im Rössinger Gemeinderat nach der Gemeinderatswahl am 12. März 1933.

Der Rat bestand damals aus 20 Männern, damit jeder Stand vertreten war, so war es im Ortsstatut verankert und Bürgermeister war schon seit 1923 der Landwirt Karl Möhle, ein tüchtiger Mann, der alle wirtschaftlichen Schwierigkeiten seiner Gemeinde, die Inflation, die Arbeitslosigkeit und den politischen Wechsel als Bürgermeister überlebt hat, bis er 1941 nach 18 Jahren ausschied und kurz darauf verstarb, und auch sein Grabstein auf dem Rössinger Friedhof gibt Kunde von seinem langjährigen Ehrenamt. Sein Nachfolger bis zum Kriegsende 1945 war der Sparkassenrendant Ernst Glockemann.

Er und seine Frau waren offenbar fanatische Nazis, wie mir Werner Kreipe erzählte. Denn als er einmal einen Brief seines Vaters überbringen musste und mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ bei Glockemanns eintrat, empfing er eine saftige Ohrfeige: „Das heißt Heil Hitler“!

Die Ratsitzungen fanden im früheren Adeligen Krug, dem Gasthaus zum goldenen Löwen, bei Caspaul statt, in der Kirchstraße 21, ab 1933 hieß der Inhaber Heise, er war SA-Mann und dort war auch das Stammlokal der örtlichen SA.

Am 12. März 1933 waren Gemeinderatswahlen gewesen und die NSDAP hatte die Mehrheit.

Zur ersten Sitzung danach, am dritten April, waren alle 20 Mitglieder des Rates erschienen. Es waren dies die Herren:

 

Böllersen      Knack           E. Speckesser           Jasper
Gott               Kämpfer       Fr. Speckesser         Pahl
Gorgs            Mieth             Stamme                   Kasten
Heitsch         Niens             Stümpel                   Scheibe
Hümpel        Nötel              Thielemann           Winte

 

Da die Mehrheit im Rat durch die Einheitsliste mit der DNVP, der Deutschnationalen Volkspartei, zustande gekommen war, wurde die Gültigkeit der Wahl zunächst angefochten, aber dann erfolgte doch einstimmige Beschlussfassung über ihre Gültigkeit. Trotzdem legte der Maurer Heinrich Stümpel einige Wochen später aus Protest sein Amt nieder. Für ihn wurde als Nachfolger der Kellner Heinrich Oppermann gewählt, der der SPD angehörte.

Bei der nächsten Gemeinderatssitzung am 23. September 1933 war Punkt 1 der Tagesordnung die Einführung neuer Mitglieder. Die SPD war inzwischen verboten worden und sieben Mitglieder, welche der SPD angehört hatten, waren aus dem Gemeinderat ausgeschlossen worden. Dazu gehörten die Herren Böllersen, Gorgs, Heitsch, Oppermann, Scheibe und zwei weitere. Für sie wurden sieben neuen Ratsmitglieder vereidigt. Es waren dies:

Hermann Wulfes, Hermann Steinhoff, Ernst Glockemann, Otto Altendorf, Friedrich Plötze, August Blume jun. und Friedrich Steinwehe, alles Angehörige der NSDAP.

Der Amtseid lautete damals:

„Ich schwöre: Ich werde Volk und Vaterland Treue halten, Verfassung und Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“

Aber am 15. Dezember 1933 wurde die demokratische Gemeindeverfassung durch Staatsgesetz geändert.

Die Anzahl der Gemeinderäte wurde von 20 auf 8 reduziert, zu denen der Ortsgruppenleiter der NSDAP Hermann Steinhoff, und der rangälteste Führer der SA Otto Altendorf gehören mussten.

Die neuen Ratsmitglieder, die nun als Dorfälteste bezeichnet wurden, waren:

Arbeiter Hermann Steinhoff;        Müller August Hümpel
Kaufmann Otto Altendorf,            Maurermeister Hermann Wulfes
Kaufmann Fritz Plötze                  Bauer August Blume
Gastwirt Albert Heise                   Schlosser Henry Othmer

Am 4. Oktober 1935 wurde die Orts-Satzung nochmals geändert. Die Gemeinderäte wurden nun vom Kreisleiter der NSDAP Winter für 6 Jahre, bis zum 30.09.1941 berufen, nicht mehr frei gewählt, und es waren nur noch sechs. August Blume und Albert Heise schieden aus. Am 18. Dezember 1935 mussten die 6 Ratsherren erneut zur Vereidigung erscheinen. Sie wurden nun nicht mehr auf Volk und Vaterland und die Verfassung vereidigt, sondern auf Adolf Hitler persönlich.

Der Eid lautete nun:

„Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“

Übrigens verschwand die Bezeichnung Dorfälteste für die Gemeinderäte nach einiger Zeit wieder aus den Akten. Mit der veralteten Bezeichnung Dorfältester wollte man wohl ganz offiziell die alte germanisch-dörfliche Hierarchie und einen prähistorischen Bauernstand wieder beleben.

Hermann Steinhoff wurde 1942 zur Wehrmacht eingezogen und ist 1944 in Frankreich gefallen. Seine Familie vermutet, er sei wegen seiner laut geäußerten Ansicht, der Krieg sei sowieso nicht zu gewinnen, eingezogen worden.

Sein Nachfolger als Ortsgruppenleiter wurde Louis Hümpel. Er war Träger des Goldenen Parteiabzeichens, das hatten nur die ersten 100.000 Mitglieder der NSDAP. Er wurde 1945 nach Kriegsende von der Besatzungsmacht im Sennelager bei Paderborn interniert und starb dort nach einigen Monaten an einem Magenleiden.

Die Ortsgruppenleiter hatten u. a. im Krieg die Aufgabe, den Familien die Todesnachricht zu überbringen, wenn einer ihrer Angehörigen gefallen war. Mehr als einmal wurden sie dabei vor die Tür gesetzt, wenn sie tröstende Worte vorbringen wollten: Gefallen für den Führer, Volk und Vaterland.
Die Auflösung des Volkschors
Die neuen Machthaber erlangten nicht nur die politische Kontrolle über das Leben des Staates, sondern sie setzten alles daran, das Privatleben der Bevölkerung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu kontrollieren.

Dem Bürgertum und den Oberschichten ließen die Nazis im Großen und Ganzen mehr Freiraum als den Mittel- und Unterschichten, die ihrer Organisationen beraubt waren, ihrer Gewerkschaften und politischen Parteien.

Als im Frühjahr 1933 die Verfolgung der Kommunisten in vollem Gange war, beschlossen die Mitglieder des Volkschors Rössing, der der KPD nahe stand, auf der Versammlung am 28. März ihre Auflösung. Der Chor war Mitglied des Deutschen Arbeiter-Sänger-Bundes, der aber politisch gleichgeschaltet werden sollte. Dazu hätten dann der Vorsitzende, der gesamte Vorstand und der Chorleiter der NSDAP oder einer anderen NS-Organisation beitreten müssen. Und das wollten sie nicht. Am 3. April erfolgte vom dazu bevollmächtigten Vorstand die Auflösung des Vereins und gleichzeitig bedeutete dies den Austritt aus dem Deutschen Arbeiter-Sängerbund.

Der Verein hatte 30 Mitglieder, gesungen wurde im Gasthaus Barsch, heute Maschstraße 35, und der monatliche Beitrag betrug 12 Pfennig pro Sänger. Das waren 10,80 Mark Einnahme im Vierteljahr und auch dies Geld war nicht immer beizutreiben. Aber kommunistisches Vereinsvermögen sollte laut Gesetz eingezogen werden. Nach den mir vorliegenden Akten hatte der Verein offiziell noch Schulden. Es musste lt. einer beigefügten Quittung sogar der Notenschrank für 35 Mark an ein Vorstandsmitglied verkauft werden, um diese zu begleichen.

Bei genauerem Studium der Akten stellte ich aber außergewöhnlich hohe Ausgaben in den Wochen kurz vor Auflösung des Vereins fest und ich habe den starken Verdacht, dass es den Sängern gelungen ist, den Nazis ein Schnippchen zu schlagen und ihr Vereinsvermögen selber noch zu verjubeln. Mit Schreiben vom 29. September 1933 wurde dann vom Regierungspräsidenten lt. Gesetz über die Einziehung kommunistischen Vermögens die Beschlagnahme von einem Sparguthaben des Volkschors in Höhe von gerade noch 48 Pfennig bei der Spar- und Darlehenskasse in Rössing verfügt.

Der Männergesangverein von 1865 „Concordia“
Außerdem gab es in Rössing den Männergesangverein von 1865, der anscheinend als Neue Liedertafel nach dem Ersten Weltkrieg, mitten in der Inflation 1923 neu gegründet wurde. Sport- und Gesangvereine hatten in dieser Zeit eine besondere gesellige Bedeutung, waren sie auf dem Lande doch meist das einzige Freizeitangebot. Der Verein überlebte die Gleichschaltung 1933, wurde Mitglied im Deutschen Sängerbund, Gau VI, Niedersachsen und nannte sich nun Männergesangverein von 1865 „Concordia“. Er hatte 33 aktive und 62 passive Mitglieder, gesungen wurde im Gasthaus Rodewald. Erster Vorsitzender war 1933 Karl Pahl, Reichsbahn-Obersekretär, der aber auch seinen Ärger mit den Nazis hatte.

Zur Stärkung der Volksgemeinschaft und der Darstellung der Einigkeit des Deutschen Volkes: Ein Volk, ein Reich, ein Führer, wurden Feste wie Erntedanktag, erster Mai usw. in Großkundgebungen gefeiert. Dazu erhielt der Vorsitzende der Concordia für ein Gemeinschaftssingen am Erntedanktag 1934 mit möglichst allen Dorfbewohnern, einschließlich der Hitlerjugend und der Ortsgruppe des KdF, der Organisation Kraft durch Freude genaue Merkblätter vom NS-Sängerbund was wann, wo und von wem auf der Veranstaltung gesungen werden sollte, staatliche Lenkung auf jeder Ebene.
Im April 1935 erhielt Pahl vom Schulenburger Ortsgruppenleiter Pollkehn einen Brief, in dem dieser beanstandete, dass in der Rössinger Concordia ein Mitglied nicht arischer Abstammung geführt wurde, nämlich der Schlachter Karl Blumenthal.
„Ich darf es nicht mehr dulden, dass Parteigenossen diesem Verein weiter angehören. Im dritten Jahr nach der Machtübernahme unseres Führers bitte ich Sie dafür Sorge zu tragen, dass der dortige Gesangverein nach den Grundsätzen des dritten Reiches geführt wird. Ferner behalte ich mir vor, ob ich nicht Schritte beim Deutschen Sängerbund unternehmen werde.
Heil Hitler      gez. Pollkehn, Ortsgruppenleiter
Der erste Vorsitzende Karl Pahl sandte den Brief an den Kreisführer Ihde in Hildesheim mit der Bitte um weitere Veranlassung. Er schreibt:

Ich bemerke dazu, dass es sich um unser Vereinsmitglied Karl Blumenthal handelt. Derselbe ist über 10 Jahre Mitglied und Frontkämpfer. Nach den Richtlinien des Deutschen Sängerbundes vom 20. Sept.1933 ist bei diesen weitgehende Rücksicht empfohlen.

Obwohl Ihde Pahl schon einmal seine Zustimmung gegeben hatte, konnten sie Blumenthal nicht halten, ohne selbst in größere Schwierigkeiten zu kommen.

Aber die Querelen hörten nicht auf. Einige Mitglieder des ehemaligen Volkschors wollten der Concordia beitreten, die wohl unter Mitgliederschwund litt, verlangten aber, dass der langjährige Chorleiter Renziehausen durch einen anderen, am liebsten ihren alten, Lehrer Künnecke, ersetzt würde, wenn dieser die Erlaubnis von der Regierung erhielte zu dirigieren. In seinem Kündigungsschreiben an Renziehausen bedauert Pahl den Vorgang:

„(…) schweren Herzens schreibe ich Ihnen diesen Brief. Ich habe mich bisher immer noch passiv verhalten.Am liebsten möchte ich den ganzen Kram hinschmeißen, mag das aber den alten Sangesbrüdern noch nicht antun.“

Offenbar waren dort auch politische Gründe im Spiel, und Pahl behielt sich seinen späteren Rücktritt vor.Als der Sängerkreis Hildesheim am 13. Mai 1933 in Elze seinen Kreistag veranstaltete, bat Pahl den zuständigen SA-Führer schriftlich, die 13 nachstehend aufgeführten SA-Männer, die auch Mitglied im Gesangverein waren, für ein Probesingen und die Sängerveranstaltung am Sonntag vom SA-Dienst zu entbinden.

Der deutsche Sängerbund steht ja auch auf dem Boden der heutigen Regierung und verfolgt und pflegt die Ziele unseres obersten Führers Adolf Hitler. Ich bitte daher nochmals, wenn irgend möglich, die genannten vom Dienst zu entbinden.

Mit deutschem Gruß und Heil Hitler
Pahl, Vereinsführer

Es handelte sich um die Herren:
Winte Walter                    Klenke Fritz                          Gott Heinrich
Alves Georg                       Baumgarten Ernst              Alpers Heinrich
Blume August                   Baumgarten Hermann      Baumgarten Adolf
Baumgarten Karl             Baumgarten Fritz               Kregel Fritz
Othmer Henry

Daraufhin schickte der Schulenburger Ortsgruppenleiter, der schon öfter genannte Pollkehne, bekannt als ganz harter Hund, im Auftrag der Kreisleitung an alle Vereine die Aufforderung:

„Sämtliche Vereine haben in Zukunft jede Veranstaltung, gleich welcher Art, dem Ortsgruppenpropagandaleiter bis zum 25. des jeweiligen (vorherigen) Monats zu melden, damit keinerlei Überschneidungen mehr vorkommen und nötigenfalls wichtige politische Veranstaltungen wegen Vereinsmeierei abgesetzt werden müssen.“

So massiv griff die Partei in die kleinsten dörflichen Gemeinschaften ein, um sich alles diktatorisch unterzuordnen

Nichtteilnahme an politischen Veranstaltungen wurde übel vermerkt. Als meine Mutter einmal nach der Aufforderung an einer politischen Versammlung teilzunehmen bemerkte: “Ach das weiß ich doch alles, was da erzählt wird“, wurde sie zur Ortsgruppenleitung bestellt. Sie wurde unter Androhung von Konzentrationslager aufgefordert, solche Äußerungen in Zukunft zu unterlassen. So hielt man die Menschen in Schach.

Am 2. Mai 1933 waren auch die freien Gewerkschaften aufgelöst worden. Eine Woche später erfolgte die Gründung der „Deutschen Arbeitsfront“ (DAF) als Zwangsorganisation aller Arbeitnehmer und ab November auch aller Arbeitgeber. Sie wurde der NSDAP unterstellt und Hitler brüstete sich stolz damit: „Wir sind das erste Land Europas, das den Klassenkampf überwunden hat, weil Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einer gemeinsamen Organisation vertreten sind.“

Aber die DAF hatte mit den klassischen Funktionen der Gewerkschaften nichts mehr zu tun, schaffte sie doch sofort die Tarifautonomie und das Streikrecht ab.

Das stattliche Vermögen der Gewerkschaften wurde beschlagnahmt und die DAF benutzte es zur Befriedung der Arbeiter mit betrieblichen Sozialeinrichtungen und „Kraft durch Freude“-Reisen.

„Kraft durch Freude“ war eine NS-Organisation, die linientreuen Mitgliedern preiswerte Ferienreisen und sogar Kreuzfahrten vermittelte, wie z. B. auf der Wilhelm Gustloff, die dann 1945 vor Kriegsende in der Ostsee mit mehreren 1000 Flüchtlingen aus Ostpreußen bei einem Torpedoangriff der Russen unterging.

Sie verschaffte aber auch den Dorfbewohnern und Schülern sehr begehrte verbilligte Eintrittskarten für Theaterbesuche, z. B. ins Mellini-Theater in Hannover. Pane et circense, Brot und Spiele, war schon das Leitmotiv der alten Römer für ihre Sklaven, das auch die Nazis befolgten. Aufwendige Ausstattungs- und Musikfilme zogen die Menschen ins Kino. Stars wie Marika Rökk, Johannes Heesters oder Zarah Leander entführten die Menschen in eine Traumwelt, die sie ihren grauen Alltag vergessen ließen, der in den Krieg und eine 60-Stunden-Woche führte.

 

Kleinkaliber-Schießverein
Die Gründung von Vereinen, die die Wehrfähigkeit der Bevölkerung verbesserten, wie Kleinkaliber- und Schützenvereine, wurden von der Obrigkeit gern gesehen. So warb der neue Kleinkaliber-Schießverein in Rössing um Schützen.

Am 9. Mai 1934 richteten Vereinsführer Rakebrandt und Werbewart Glockemann des Kleinkaliber-Schießvereins ein Schreiben an den Gesangverein Concordia und warben um Mitglieder für ihren neugegründeten Verein, der sich auf der von Rössingschen Obstwiese etabliert hatte, wie mir berichtet wurde. Das Schreiben lautet:

Durch den Versailler Vertrag ist es uns genommen worden, unsere Wehrkraft durch festes Militär auszubauen. Es ist daher Pflicht eines jeden Deutschen, sich durch die bestehenden Schießvereine dem Wehrsport anzuschließen und diesen nach besten Kräften zu fördern.

Es wurde zu einem Werbetag eingeladen, ich zitiere: „- wie er uns von unserer Reichssportbehörde vorgeschrieben ist.“ Schon damals deuteten also alle Zeichen auf Krieg. Es wurde nur nicht richtig zur Kenntnis genommen.

Der besagte von Rössingsche Obstgarten kam 1943 beim Rössinger Gemeinderat wieder ins Gespräch, als der Freiherr von Rössing den Antrag stellte, das Grundbuch zu berichtigen, die drei Eichen gehörten nicht der Gemeinde, sondern sei von Rössingscher Privatbesitz. Diese Differenzen bestanden schon seit 1848, als bei der großen Agrarreform und Flurbereinigung der Fußweg dort zwischen Mauer und Teich in der „Theilungskarte“ als Gemeindeweg bezeichnet wurde. Die Gemeinde berief sich dabei immer auf das Gewohnheitsrecht, man sei dort schon über 40 Jahre ungestört durchgegangen. Man erklärte sich aber bereit, unter den Eichen und einem Stück des von Rössingschen Obstgarten nach Beendigung des natürlich siegreichen Krieges dort einen Ehrenhain für die gefallenen Rössinger zu errichten und alles als von Rössingsche Stiftung ins Grundbuch einzutragen. Dies Ansinnen war eine Unverschämtheit und kam einer Enteignung gleich. Die drei Eichen, die 1985 in unser Ortswappen aufgenommen wurden, waren damals 1943 unter Naturschutz gestellt worden. Ohne Zweifel gehörte dies Gelände ursprünglich zum von Rössingschen Grund und Boden. Aber heute ist die Familie eigentlich froh darüber, dass die Gemeinde zuständig ist, denn die Pflege und Erhaltung dieser Rieseneichen erfordern einen riesigen finanziellen und maschinellen Aufwand.

 

Die Kyffhäuserkameradschaft

Die neuen Schießverbände waren den Nazis genehm, die alten Soldatenverbände waren ihnen dagegen ein Dorn im Auge.

Die Kyffhäuserkameradschaft als Soldatenbund war schon nach dem Krieg 1870-71 gegründet worden und einer der ältesten Vereine in Rössing. Er pflegte nicht nur die soldatische Tradition sondern kümmerte sich vor allem auch um die Witwen und Waisen der gefallenen Kameraden. Einige Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fanden sich die ehemaligen Frontsoldaten wieder zusammen und auch Karl Blumenthal als jüdischer Weltkriegsteilnehmer und Inhaber des „EisernenKreuzes“ war dort geachtetes Mitglied. Die Stahlhelmer fanden dort ebenfalls ihre mehr konservativ-rechts ausgerichtete politische Heimat. Einen eigenen Stahlhelmbund hat es meines Wissens in Rössing nicht gegeben, allerdings Sympathisanten und passive Mitglieder. Die Kyffhäuser-Kameradschaft war 1931 auf 120 Mitglieder angewachsen und im März 1935 wurden sie als NS-Frontkämpferbund gleichgeschaltet. Damals erhielten sie eine neue Fahne, in die das Hakenkreuz eingearbeitet war. Sie verschwand 1945, während die alte Fahne von der Gründung noch vorhanden ist. 1943 nach der Tragödie von Stalingrad, als die ganze sechste Armee für einen Heldenmythos geopfert wurde, wurden von Hitler alle alten und neuen Soldatenbünde aufgelöst und diese Tatsache für sich spricht Bände.

 

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold dagegen gab es als eigene Gruppe in Rössing.

Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold war das republikanische Pendant der Stahlhelmer, das sich für die Weimarer Verfassung einsetzte. Seine Rössinger Mitglieder hatten 1931 bei der Gemeinde den Antrag gestellt, den Sportplatz mitbenutzen zu dürfen, was ihnen auch gestattet wurde. Dieser Sportplatz lag westlich hinter dem heutigen, Richtung Leine, wo jetzt das Kieswerk ist und war eigentlich nur eine Wiese zum Fußballspielen. Sie wurde vom Schäfer mit seiner Herde beweidet und die Sportler fanden das gar nicht immer so lustig, wenn sie auf dem Schafmist ausrutschten. Aber bald nach der Machtübernahme am 11. März 1933 wurde das Reichsbanner von den Nationalsozialisten verboten.

Übrigens lag der aller erste Rössinger Sportplatz, unter den Eschen auf Calenberger Domänenland und war auch nur eine Wiese mit zwei Toren, wo von 1913 bis 1926 Fußball gespielt wurde.

 

Die Rössinger SA
Eine Formation der SA gab es in Rössing ebenfalls schon vor dem 30. Januar 1933. Treffpunkt der SA war Gasthaus Heise (Adeliger Krug), das nach dem Krieg von Hübner übernommen wurde. Auch hier wurden, wie in den Städten, politische Überzeugungen mit körperlicher Gewalt ausgetragen. Schlägereien im Loderwinkel und am Stammlokal der SA Heise, zwischen SPD-Anhängern, Kommunisten und SA waren auch hier politischer Alltag, wie mir berichtet wurde. Ein Schmiedegeselle von Schmied Schökel (wahrscheinlich Leinkamp 10), ein überzeugter NSDAP-Anhänger, hatte ein eisernes Hakenkreuz geschmiedet und es hoch oben an der mittleren der drei Eichen aufgehängt, so hoch, dass niemand daran kam, um es wieder abzunehmen. Kurz darauf war er verschwunden und ist nie wieder aufgetaucht. Man sprach von einem Verbrechen, das aber nie aufgeklärt wurde.

Die SA beteiligte sich auch an den Bücherverbrennungen, die vielerorts am 10. Mai 1933 in einer organisierten Aktion durchgeführt wurden. Dies betraf Werke sozialistischer, pazifistischer, jüdischer und liberaler Autoren. In Rössing brannte es am Pastorenthie, wie mir erzählt wurde, aber hauptsächlich spielten sich die Bücherverbrennungen in den Städten ab.

Im Mai 1934 hatte die SA den Gemeinderat um einen Zuschuss für ihre Ausrüstung gebeten, den dieser auch der SA-Standarte 612 einstimmig in Höhe von 600 Mark bewilligte, eine stolze Summe

Die SA hatte Donnerstag und Sonntagvormittags Dienst und marschierte mit Vorliebe mit klingendem Spiel die Maschstrasse entlang, vereint mit den SA-Leuten aus Giften und Barnten. Führer der örtlichen SA war Otto Altendorf, ein strammer Nazi, der lt. Schulchronik auch Musikzugführer des Jungvolks und der Hitlerjugend war. Außerdem war er Musikzugführer der Freiwilligen Feuerwehr.

Wie groß die SA-Sturmabteilung in Rössing war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Aber in einem Ort wie Groß-Escherde mit damals schätzungsweise 400 Einwohnern, waren es im Krieg sogar noch 65 SA-Leute, wie in der Reckelschen Chronik von 1995 berichtet wird. Zweimal, es muß1934 und 35 gewesen sein, kam Hitler am Erntedanktag, auf der Fahrt vom oder zum Bückeberg bei Hameln, wo die Riesenkundgebungen stattfanden, die Bundesstrasse 1 entlang. Er stand grüßend mit erhobenem Arm in einem großen offenen Wagen, die Menschen standen dichtgedrängt, uniformiert und nicht uniformiert und jubelten und überreichten Berge von Blumen, die hinter ihm auf den Sitzen lagen und ein zweiter Wagen dahinter war auch noch voll mit Blumen, und ein Rössinger saß am Steuer des ersten Wagens. Die anliegenden Orte wie Groß Escherde und Heyersum mussten Ehrenpforten aufbauen und alle SA-Männer aus der Umgebung, auch aus Rössing waren zum Spalierstehen abkommandiert. Die Familien mit ihren Kindern kamen, um den Führer zu sehen. Mein Mann hat das als kleiner Junge auch selbst miterlebt. Der Jubel grenzte schon an Massenhysterie. In der Inszenierung von Massenveranstaltungen waren die Nazis Meister. Der damalige französische Botschafter André François-Poncet schilderte als Augenzeuge die Feier zum 1. Mai 1933 in Berlin auf dem Tempelhofer Feld unter dem Hakenkreuz.

„Die Scheinwerfer verlöschen mit Ausnahme derer, die den Führer in strahlende Helle tauchen, so dass er wie in einem Märchennachen über dem Gewoge zu seinen Füßen zu stehen scheint. …Es ist die Wirkung, die von ihm auf die Zuhörer ausgeht, eine Wirkung, die weit mehr körperlich als geistig ist, gesteigert durch den Gegensatz von Licht und Schatten, die ganze romantische Aufmachung, die Fahnen und die Uniformen, (…) und die lauschende Menge ist erschüttert und mitgerissen wie der Schiffer durch das Zauberbild der Lorelei.“

Aber wie die Begeisterung dieser Menschen für hohe und ideale Ziele von einem größenwahnsinnigen Machtpolitiker missbraucht werden sollte, das konnte sich damals wohl keiner vorstellen.

Hitlers hypnotische Fähigkeiten als Massenredner, der unerschütterliche Glaube an seine Unbesiegbarkeit und seine Willensstärke machten seinen Erfolg aus, seine Selbstüberschätzung, seine Skrupellosigkeit und der völlige Mangel an Selbstkritik den Untergang.

Und damit möchte ich meine Ausführungen für heute schließen.

Ich spreche über eine Zeit von 12 Jahren, die die ganze Welt veränderten, und dafür reicht eine Stunde nicht aus.

Ich werde also den zweiten Teil heute in einer Woche vortragen, dann geht es weiter über die NS-Organisationen, über die Jugend, die Hitlerjugend, aus der Schulchronik, über die Kriegszeit und das Schicksal der jüdischen Familie Blumenthal.

Also am 13. Oktober, d. h. in einer Woche, zur gleichen Zeit am selben Ort und ich würde mich freuen, sie dann alle wieder zu treffen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Die Zeit des Dritten Reiches von 1933 bis 1945 in Rössing

Teil 2 

Im ersten Teil meiner Ausführungen über die NS-Zeit in der vorigen Woche habe ich versucht deutlich zu machen, wieso Hitler mit seinen Ideen solchen Erfolg in Deutschland hatte. Heute berichte ich aus der Zeit, als Hitler fest im Sattel saß, als alle politischen Parteien außer der NSDAP verboten waren und sein Einparteiensystem fest etabliert war. Er hatte wirklich die Arbeitslosigkeit in ca. zwei Jahren beseitigt, wie versprochen, die Menschen fassten wieder Hoffnung und fast alle jubelten ihm zu. Durch die Gleichschaltung sämtlicher Organisationen und Länderparlamente war jegliche Opposition ausgeschaltet und alles unterstand einer starken Zentralgewalt, verkörpert durch den Diktator Adolf Hitler und seine NSDAP

Vorige Woche hatte ich mich als Quelle bei meinen Berichten über Rössing auf die Ortsratsprotokolle und Vereinsakten gestützt, heute berichte ich über die hiesigen NS-Organisationen, aus der Schulchronik, über die Hitlerjugend, die Kriegszeit und das Schicksal der jüdischen Familie Blumenthal.

 

NS-Organisationen

Im Reich waren nach 1933 alle Wohlfahrtsverbände aufgelöst und in NS-Organisationen umgewandelt worden. Aus dem Vaterländischen Frauenverein in Rössing wurde ein Ortsverein des Deutschen Roten Kreuzes. Der Vaterländische Frauenverein war eine Gründung der Familie von Rössing während des ersten Weltkrieges gewesen und hatte sich um Verwundete gekümmert und Bedürftige unterstützt. In den Notzeiten danach unterstützte Familie von Rössing durch private Hilfsmaßnahmen notleidende Rössinger Familien nach der Geburt eines Kindes, indem diese sich eine Zeitlang Mittagessen aus der Schlossküche holen konnten, ältere Rössinger erinnern sich heute noch voll Dankbarkeit daran. Aber auch das DRK war immer ein besonderes Anliegen der von Rössingschen Damen, wie wir alle wissen.

Die meisten anderen Wohlfahrtsverbände waren in der NSV aufgegangen, in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt.
Ein NSV-Kindergarten für Rössing
Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, kurz NSV genannt, stellte am 17. Mai 1938 eine Gemeindeschwester ein und richtete in Rössing den ersten Kindergarten ein, der von Frl. Hövermann geleitet wurde, die später Herrn Bormann heiratete. Der Kindergarten wurde in einem behelfsmäßigen Flachbau am ehemaligen Karussellplatz, an der Ecke Leinkamp und Kirchstraße untergebracht. Einige ältere Rössinger, die ihn als Kinder selbst besucht haben, können sich noch daran erinnern. Das Gebäude wurde später abgerissen.

Aber für Veranstaltungen wurde ab 1.April 1944 der Saal bei Willenbrink, ehemals Gasthaus Heise, später Hübner angemietet und zwar für 2 Pfennig pro qm und Tag. Die NSV-Kreisleitung zahlte davon 60, die Gemeindeverwaltung 40 und die Ortsgruppe der NSDAP 20 RM pro Monat. Kassenwart für die NSV Ortsgruppe war Herr Eber, der Vater von Herrn Prof. Wolfgang Eber, der seine Kindheit in Rössing verlebt hat und sehr viel Anteil an unserer Arbeit nimmt und sie auch schon finanziell unterstützt hat. Sein Vater war städtischer Angestellter in Hannover, musste aber, da er kein Parteigenosse war, irgendeiner NS-Organisation beitreten. Er entschied sich für die NSV, wurde Kassenverwalter und musste nach dem Krieg ein langwieriges Entnazifizierungsverfahren über sich ergehen lassen, bei dem 1946 der damalige Bürgermeister Böllersen und die Lehrerin Frl. Flüggen als Entlastungszeugen für ihn gutsagten, dass er sich unermüdlich für die hiesigen Flüchtlinge eingesetzt habe. Die NS-Volkswohlfahrt kümmerte sich während des Krieges um die Evakuierten und Ausgebombten und später um die Flüchtlinge aus dem Osten und organisierte deren Unterbringung und Verpflegung und war ein gut funktionierendes Organ. Mit Kriegsende verschwand auch der Kindergarten wieder und erst 1971 wurde ein Kinderspielkreis und 1994 ein neuer Kindergarten gegründet.
NS-Propaganda für Kinder
Schon die Kinder wurden im Dritten Reich mit der NS-Ideologie massiv berieselt nach dem Motto: Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.

Im Nachlaß von Friedel Koch, einem der letzten Bauern in Rössing, fanden sich in zwei alten Koffern vom Dachboden, die niemand mehr haben wollte und die auch nicht mehr auf dem Flohmarkt zu verhökern waren und schließlich bei der Dorfpflege landeten, interessante Zeitschriften aus dieser Zeit.

Eine war die Kinderpost

„ZU GOTTES EHR – ZUR FREUD UND LEHR“

Zeitschriften für etwa sechs- bis 10-jährige Kinder von 1937/38 und 39. Zuerst dachte ich, es seien Kindergottesdienstblätter – wegen des Titels, aber das war nicht der Fall.

In jedem dieser Kinderhefte waren u. a. Werbeanzeigen von nationalsozialistischen Organisationen mit Bildern und markigen Sprüchen

Kinder-Hilfswerk: „Nehmt ein Ferienkind auf, in der Jugend liegt unsere Zukunft.“

WHW Winterhilfswerk: „Kein anständiger Deutscher kann sich dem Ruf des WHW-Sammlers entziehen, denn er steht im Dienst der Volksgemeinschaft. Nur durch diese Gemeinschaft lebst auch Du.“

Denn für alles wurde gesammelt. Es war überhaupt ein Merkmal dieses Systems, dass ständig versucht wurde, den Bürgern das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Mit Parolen wie: „Bekennst Du Dich zum nationalsozialistischen Staat? Dann hinein in die NS-Volkswohlfahrt.“ „Spende für das Winterhilfswerk“ oder die Jugendherbergen, oder den VDA, das war der Verein der Deutschen im Ausland. Das mussten immer die Schulkinder machen. Der VDA verkaufte zu Weihnachten jedes Jahr dunkelblaue Kerzen für 30 Pfennig. Auch heute noch denke ich jedes Mal, wenn ich eine dunkelblaue Kerze sehe: Eine VDA-Kerze. So hat sich das eingeprägt.
Wer nicht genug spendete, wurde angeprangert.

Oder bei Kriegsausbruch:

„Vor keinem Feind wird Deutschland kapitulieren. Ein Volk hilft sich selbst. Darum opfere für das Kriegs – WHW.“
Ein Zitat von Hitler selbst am 1. Sept. 1939:

“Wenn unser Wille so stark ist, dass keine Not ihn mehr zu zwingen vermag, wird unser Wille und unser deutscher Stahl auch die Not zerbrechen und besiegen.“

Hitlers Glaube, unbesiegbar zu sein, allein durch seinen Willen, kommt hier deutlich zum Ausdruck. Ein Reichsparteitag hieß auch: Triumph des Willens. Der Personenkult um Hitler machte vor der Kinderlektüre nicht Halt.

Zu Neujahr 1937 heißt es auf dem Titelblatt:

Lobt Gott den Herrn!
Dankt ihm, dass er das Vaterland
Hielt fest in seiner starken Hand,
Und betet, dass im neuen Jahr
Er Volk und Führer treu bewahr!

Oder zum Erntedankfest 1938:

Auch wir wollen diesen Tag begehen mit dankbarem Herzen gegen Gott, den Spender alles Guten, und voll Dankbarkeit gegen den Führer, der sein Volk mit sicherer Hand durch alle Gefahren der aufgeregten Welt hindurchgeleitet hat und als Mann der Vorsehung unermüdlich dafür sorgt, dass wir alle Arbeit und Brot haben.

Mit Kriegsbeginn 1939 veränderte sich dann auch der Inhalt der kindlichen Geschichten in den Heften. Nun hieß es:

„U-Boot Nr. 9 vernichtet 3 englische Kreuzer“
„Kriegers Morgengebet“ oder
„Fallschirmjäger im Einsatz“

 

„Hilf mit“, die illustrierte Deutsche Schülerzeitung

Die illustrierte deutsche Schülerzeitung, also für die älteren Kinder, die vom NS-Lehrerbund herausgegeben wurde und von der sich ebenfalls noch eine Reihe Exemplare ab 1934 auf einem Rössinger Hausboden gefunden hat, hieß Hilf mit. Ich erinnere mich selbst noch genau an diese Hefte, die wir mit Begeisterung gelesen haben. Begriffe wie Ehre, Treue, Kameradschaft und Vaterlandsliebe begeisterten eine idealistische Jugend und sprachen ihre edelsten Instinkte an.
Die Werbung und Idealisierung des Bauernstandes, dessen Zukunft in den unendlichen Weiten des Ostens liegen sollte. Lieder wie: „Nach Ostland wollen wir reiten“, und andere kriegerische Lieder sangen wir ohne nachzudenken.

Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und schnell wie Windhunde wollte Hitler die Jugend.

Führergläubig und opferbereit wurde diese Jugend in einen entsetzlichen Krieg geschickt und verblutete zu Millionen.

Als mein Mann und ich im Sommer vorigen Jahres auf einer Reise in die Ukraine durch die unermessliche Weite und die endlosen Steppen Rußlands fuhren und am Ufer der gewaltigen und eigentlich unüberwindlichen Ströme wie dem Dnjepr standen und auf einem riesigen Soldatenfriedhof auf der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer mit Zigtausend Toten, da kam uns noch einmal der ganze Wahnsinn dieses Krieges an.

 

Auch für die Eltern gab es NS-Lektüre

Die Zeitschrift „Reichs-Elternwarte“ versprach dem Erzieher, dem Lehrer, ein engster Bundesgenosse zu werden im Kampf um das Elternhaus mit dem Gedanken nationalsozialistischer Jugenderziehung zum Dienst am Volkstum und Staat. Gefördert werden sollte die Stählung des Charakters und der Selbstzucht und körperliche Schulung für den künftigen einsatzbereiten Staatsbürger. Stets wurde für die Berufsauffassung herausgestellt: „Du arbeitest nicht für Dich oder bestenfalls Deine Familie – alle Arbeit geschieht für die Gemeinschaft, als sittliche Verpflichtung für Dein Volk und den Staat. Alle deutschen Schulen haben nur ein Ziel, die Erziehung zum Staate.“
Führerprinzip und Rassenideologie

Zu dem nationalsozialistischen Gedankengut gehörte vor allem auch das Führerprinzip, einer mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Herrschaftskultur. Die Entscheidungen des Führers galten als unfehlbar und unanfechtbar. Der Führerkult war an die Person Adolf Hitlers gebunden: „Führer befiel, wir folgen dir.“

Weiterer Kernpunkt der nationalsozialistischen Ideologie war die Rassenlehre, die auch im Parteiprogramm der NSDAP verankert ist. Sie enthielt vor allem zwei Hauptgesichtspunkte: den völkischen Nationalismus und den Antisemitismus, beides in übersteigerter Form.

Dem Germanenkult von Hitler wurde in der Elternwarte reichlich Tribut gezollt. In Fotoreportagen wurden mit Röntgenbild und Zentimetermaß Charaktereigenschaften und die rassischen Merkmale der germanischen Rasse herausgestellt, die es als solche nie gegeben hat, nur Stämme, die sich auch in ihren äußeren Merkmalen unterschieden.

Hitler hätte ja am liebsten alle Deutschen nordisch schön, blond und blauäugig gehabt, obwohl er selbst diesem Idealbild in keiner Weise entsprach.

Eine gemeinsame Schulerziehung von Jungen und Mädchen widersprach nationalsozialistischem Erziehungsgeiste, sie sollten getrennt unterrichtet werden. Die Mädchen sollten in erster Linie im Sinne des NS für ihre eigentliche weibliche Aufgabe als Frauen und Mütter erzogen werden, als Wächterin der Familie, Mutter ihrer Kinder und gehorsame Helferin ihres Mannes. Pflichtjahr, weiblicher Arbeitsdienst, auch für Mädchen, die studieren wollten, mindestens ein halbes Jahr: Der Weg zum Hörsaal führt durch die Küche, hieß es. Frauenstudium wurde nicht gefördert, sondern im Gegenteil ihre Zulassung beschränkt. Ärztinnen bekamen Schwierigkeiten und Hitler verfügte persönlich, dass Juristinnen weder Richter noch Anwälte werden konnten. Die Ehe wurde als Mittel zur Vermehrung und Art der Rasse betrachtet. Kinderreichtum wurde propagiert. Reden an die deutsche Frau von der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klinck, die 11 Kinder hatte, taten das ihrige. Es gab das Mutterkreuz als Auszeichnung in mehreren Stufen ab vier Kinder bzw. Geburten. Im Krieg kursierte der Spruch: „Räder müssen rollen für den Sieg, Kinderwagen für den nächsten Krieg.“

Einfachheit wurde gepredigt, Lippenstift, Make-up und Rauchen  waren verpönt. Rassereinheit war oberstes Gebot. Beziehungen zu Juden, Farbigen oder Schwarzen waren verboten.
Die Rössinger Schulchronik
In Rössing ist die  Schulchronik eine sehr ergiebige Quelle für das Leben der Schuljugend in dieser Zeit. Sie vermeldet 1933 als das Jahr der nationalen Erhebung und man spürt die Begeisterung des Chronikschreibers. Aus politischen Gründen bekamen die Kinder häufig schulfrei und es wurden sehr viel Gedenkfeiern veranstaltet. Egal aus welchem Grund, schulfrei gefällt Kindern natürlich immer.

So hieß es im Jahr 1933:

05. März:
nach dem Wahlsieg der NSDAP mit 44 % ,ein Tag schulfrei. Die Schule zeigte als Flaggenschmuck die schwarz-weiß-rote und die Hakenkreuzfahne vom Montag bis Mittwoch, lt. Anordnung Hitlers.

21. März
Radioübertragung der Rede Hitlers aus der Potsdamer Garnisonkirche mittels des Frl. Ewert gehörigen Rundfunkgerätes, danach schulfrei

20. April:
Hitlers Geburtstag, schulfrei

27. Mai:
Gedenkfeier für Albert Leo Schlageter, der 1923 während der Besetzung des Ruhrgebietes von den Franzosen erschossen wurde

24. Juni:
Tag der deutschen Jugend, Sonnenwendfeier, schulfrei, hier knüpfte man an germanische Traditionsfeste an.

28. Juni:
Gedenkfeier wegen Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1919

15. August:
Schulwandertag

02. Sept:
Reichsparteitag in Nürnberg, zusätzlicher Wandertag für alle Schulen

11. Sept:
Gedenkfeier der Schlacht vor Wien 1683

16. Sept:
Reichsjugendwettkämpfe, Sportwettkämpfe gab es  regelmäßig.
Es ging noch einige Zeit weiter mit den vielen schulfreien Tagen aus politischen Gründen. Wenn Hitler oder Goebbels in Berlin, auf dem Reichsparteitag in Nürnberg oder sonst wo eine Rede hielten, wurde für die Schulen Gemeinschaftsempfang für die Rundfunkübertragung angeordnet.

Die Schilderungen in der Schulchronik über die Vorgänge im Jahre 1933 stammen nicht aus der Feder von Christfried Meyn, der als überzeugter Nationalsozialist bekannt war. Der war zu diesem Zeitpunkt nicht Lehrer in Rössing. 1929/30 war er neun Monate vertretungsweise hier. Dann kam er am 1. Okt.1935 wieder und blieb bis zum Ende des Krieges 1945 mit Ausnahme einer Zeit von eineinhalb Jahren, in denen er eingezogene Kollegen in Sorsum und Wülfingen vertreten musste. Seine ehemaligen Schüler berichten, dass er morgens immer mit einem zackigen Heil Hitler die Klasse betrat, was die Schüler ebenso zackig erwidern mussten. Und dann wurde das Lied gesungen: Nimmer wird das Reich zerstöret, wenn wir einig sind und treu, jeden Morgen, und das als Kanon.

Meyn gehörte auch zur SA, den Braunhemden, und wenn ihm eins der Schulkinder im Dorf begegnete, erwartete er, dass ihm schon von weitem der Arm zu einem schneidigen Hitlergruß entgegen gereckt wurde.

Trotzdem war er bei seinen Schülern sehr beliebt, obwohl er, wie andere Lehrer auch, ab und zu vom Rohrstock Gebrauch machte. Der Hitlergruß war ja sowieso obligatorisch, statt Guten Tag hieß es mit erhobenem rechten Arm: Heil Hitler.

Beim Zusammenbruch im Mai 1945 wurde Herr Meyn inhaftiert und seines Amtes als Lehrer enthoben. Später lebte er dann in Hameln und hat auch wieder Unterricht erteilt.

Wochensprüche in der Schule, um einen Gedanken des Führers in das Volk zu bringen, galten als wertvolles Rüstzeug und für den nationalpolitischen Unterricht als unentbehrlich. Z.B: Ich glaube an das deutsche Volk, an die Kraft der Persönlichkeit und an die Notwendigkeit des Kampfes oder: Wer sein Volk liebt, beweist es einzig und allein durch die Opfer, die er für dieses zu bringen bereit ist.

Es wurde gesammelt für den VDA, die NS-Frauenschaft, für das Jugendherbergswerk, die Pfundspende für die NS-Volksfürsorge, und die Schüler sammelten Rosskastanien zur Behebung der Futtermittelknappheit.

1936 hatte Hitler sich über den Versailler Vertrag hinweggesetzt: Deutschland bewaffnete sich wieder. In der Schule wurde jedes Jahr an diesem Tag daran erinnert.

Die Frauen waren organisiert in der NS-Frauenschaft und die Mutter von Werner Kreipe, Marie Kreipe, war ihre Leiterin. Hier wurden Strümpfe und Handschuhe gestrickt und Pakete an die Front geschickt. Außerdem widmete man sich der Fürsorge für die Verwundeten. Nach dem Krieg wurde zunächst das Vermögen von Marie Kreipe konfisziert, aber nach einiger Zeit wurde es wieder freigegeben, weil man ihr keine verbrecherischen Handlungen nachweisen konnte.

 

Baldur von Schirach wird Reichsjugendführer

Am 8. Juli 1933 war Baldur von Schirach zum Reichsjugendführer der NSDAP ernannt worden. Er verfügte sofort die Auflösung aller Jugendverbände der politischen Parteien wie z. B. der Falken, aber auch der sonstigen Jugendbünde, wie Wandervögel, Pfadfinder, Naturfreunde, der Bündischen Jugend usw. und die Sperrung ihres Vermögens. Es gab nur noch die Hitlerjugend. Auch die Dachverbände der Sportvereine waren der NSDAP unterstellt.

Am 7. Juni 1934 erfolgte die Einführung des Staatsjugendtages, schulfreier Sonnabend für die HJ-Mitglieder, für die anderen war Schulunterricht. In Rössing waren fast alle Kinder in der HJ, es verblieben so wenige in der Schule, dass ein geordneter Unterricht nicht möglich war.

Am 1. Dezember 1936 erfolgt das Gesetz über die Hitlerjugend, und der schulfreie Sonnabend als Staatsjugendtag wurde wieder abgeschafft, was wir Jugendlichen natürlich sehr bedauerten.

§ 1
Die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes ist in der Hitlerjugend zusammengefasst.

§ 2
Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen.

Sport, die körperliche Ertüchtigung wurde ganz groß geschrieben. Nach den Herbstferien 1937 wurden für die Jungen wöchentlich fünf Turnstunden in der  Schule angesetzt.Für die Jungen, die in der Industrie, z. B. den Wülfeler Eisenwerken eine Lehrlingsausbildung machten, stand jeden Morgen eine halbe Stunde Sport auf dem Lehrplan, die als Arbeitszeit galt.

 

Die Hitlerjugend

Am 25. März 1939 kam die Einführung der Jugenddienstpflicht. Alle Jugendlichen vom 10. bis zum vollendeten 19. Lebensjahr waren verpflichtet, in der Hitlerjugend Dienst zu tun. Anfang 1939 waren es 9 Mill. 140 000 Mitglieder. Irgendwann wurde jeder auf Adolf Hitler vereidigt: „Ich verspreche, in der HJ allezeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne.“ Aber da waren die meisten längst dabei.

Und das ist die Zeit, an die sich noch eine ganze Reihe Rössinger erinnern, und den meisten hat es Spaß gemacht. Wie sehr wir manipuliert, wie die Jungen körperlich fit gemacht wurden für den Krieg, und unsere Köpfe mit den ständigen NS-Parolen praktisch einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, das haben wir gar nicht gemerkt.

Die 10 bis 14jährigen waren die Jungmädel und Pimpfe, die 14 bis 18jährigen BDM-das heißt Bund deutscher Mädchen und Hitlerjugend.

Mittwoch- und Sonnabendnachmittag war HJ-Dienst. In Rössing traf man sich auf dem Schulhof oder auf dem Sportplatz, der damals weiter östlich des heutigen, zur Leine hin lag. Viel Sport, Völkerball, Leichtathletik, die Jungen machten Geländespiele auch gegen andere Dörfer, Kilometer- und Gepäckmärsche als vormilitärische Übung. Bei schlechtem Wetter gab es Heimabende in der Schule und nationalpolitischen Unterricht. Hitlers Lebenslauf mußten wir alle auswendig können. Es wurde viel gewandert und gesungen, natürlich Marschlieder und uniformiert hinter einem Wimpel singend die Straße entlang zu marschieren, fanden wir gut, auch die Mädchen. Die Uniform war ganz wichtig. Weiße Bluse mit Pattentaschen und Abzeichen, an die ein dunkelblauer Rock mit Quetschfalte angeknöpft wurde, dazu die kurzen braunen Jacken, die Kletterwesten, die wir auch Affenjacken nannten, schwarzes gerolltes Dreiecktuch und Lederknoten. Die weißen Blusen hatten entsetzlich viele Knöpfe und es war ein Horror, sie zu bügeln.

Die Pimpfe trugen kurze schwarze Hosen, Braunhemd, Schulterriemen, Koppel, und natürlich das Fahrtenmesser. Aber die Jungen waren diszipliniert und ich habe nicht von einem einzigen Fall gehört, dass es zu Messerstechereien gekommen wäre. Im Winter trugen sie über dem Braunhemd dunkelblaue warme Blusen und Schi- oder Überfallhosen Aber das bürgerte sich erst allmählich ein, weil sie viel Geld kosteten und im Krieg nicht mehr alles zu haben war. Aber die Mädels waren stolz und freuten sich, wenn die Mutti ein Uniformstück ergattert oder selbst genäht hatte.

Die Jugendlichen fühlten sich in einer Gemeinschaft Gleichaltriger anerkannt und geborgen, zu gemeinsamen Unternehmungen wurden sie angeleitet durch ältere Gruppenführer und -führerinnen. Zu den HJ-Führern gehörten u. a. Warneke, Schökel, Willenbrink und Karl Baxmann, der 1944 im Krieg als Hauptmann das Ritterkreuz erhielt und bei seinem Heimaturlaub im Juni 1944 von der Jugend und dem ganzen Dorf begeistert und voller Stolz empfangen wurde, wie es in der Schulchronik ausführlich geschildert wurde.

Bei den Jungmädelführerinnen waren es unter anderen Gisela Harke, später verheiratete Breuer und die Zwillingsmädchen von Kaufmann Glockemann in der Kirchstraße. Diese konnten Akkordeon spielen und bereicherten mit ihrer Quetschkommode, wie wir das damals nannten, die gemeinsamen Stunden. Die Lehrerin „Fräulein“ Ewert war auch BDM-Führerin, wie mir berichtet wurde.

Das Lehrerehepaar Reckel aus Groß-Escherde hatte schon vor 15 Jahren mit seinen Recherchen über die NS-Zeit in ihrem Dorf angefangen. Da waren die Augenzeugenberichte noch sehr viel zahlreicher. Die BDM-Mädchen von damals erzählten als alte Damen beim Kaffeekränzchen, dass sie den Dienst und die Heimabende immer sehr genossen hätten, weil sie dann nicht zu Hause und in der Landwirtschaft helfen mussten.

So ähnlich wird es hier wohl auch in Rössing gewesen sein.

Ein ganz besonderer Höhepunkt muss für die Rössinger Jungen das Sommerlager der HJ in Ruhla in Thüringen gewesen sein, eine Ferienreise nur für Kinder, für viele

die erste Reise überhaupt, oder nach Grünenplan und wenn die Rede darauf kommt, sind sie heute noch begeistert. Für die Mädchen fand ein entsprechendes Lager in Hülsede statt. Aber manche kleine Zehnjährige bekam dann doch plötzlich „Bauchschmerzen“, wenn sie von der Mama fort sollte. Eine frühere Rössingerin, Frau Erker, jetzt in Bodenburg, erzählte mir auch ganz begeistert von den vielen Fahrten, die sie mitgemacht hatte.

Was sie aber nicht daran hinderte, mit ihrer jüdischen Banknachbarin Hanna Blumenthal eng befreundet zu sein.

Die NSDAP war contra Kirche eingestellt.

Die Schulchronik berichtet im März 1938 von Schwierigkeiten mit der Kirche.

Der Gottesdienst für die Schulanfänger war der Partei ein Dorn im Auge und wurde durch Ministererlass aufgehoben. Sonntagsmorgens, wenn die Jugendlichen eigentlich zur Kirche sollten, wurden z.B. in Hannover auch mit Vorliebe billige Kinobesuche, Eintritt 20 Pfennig, im so genannten Gaukino angeboten, das war für uns sehr verlockend. Die Filme hießen natürlich: „Hitlerjunge Quex“, „Fridericus Rex“, „Kolberg“ oder ähnliche Durchhaltefilme. Durch solche Maßnahmen versuchten die Nazis den Einfluss der Kirche auf die Jugend zurückzudrängen.

Pastor Rengstorf, der von 1942 bis 1948 Pastor in Rössing war, kam seinen Konfirmanden immer sehr entgegen, wenn Kirche und Hitlerjugend gleichzeitig Veranstaltungen hatten. Er war nicht auf Konfrontation aus und hatte seinen Frieden mit den Verhältnissen gemacht. Aber wie sehr die NSDAP die Jugendlichen vereinnahmte, zeigt ein Bild mit dem Konfirmationsspruch, das die Kinder vom Pastor bei der Konfirmation erhielten. Es zeigte keinerlei christliche Symbole, sondern eine farbige Darstellung aus dem Siebenjährigen Krieg nach der siegreichen Schlacht bei Leuthen: Unterschrift: „Der Choral von Leuthen“ – ein absolut kriegerisches Bild.
Systematische Kriegsvorbereitung
Aber es kam auch etwas Neues ins Spiel, die schleichende Vorbereitung auf den Krieg, die von uns gar nicht als solche wahrgenommen wurde.

Deutschland rüstete auf, es trat Rohstoffknappheit auf. Göring stellte den Vierjahresplan auf mit dem Ziel der wirtschaftlichen Autarkie, der Unabhängigkeit vom Ausland. Da hieß es dann mit dem üblichen Pathos: Ährenlese durch die Schuljugend – ein Frontabschnitt in der großen Erzeugungsschlacht, die unter der Parole steht: Ein Volk hilft sich selbst.

Die Schulchronik berichtet: Die Jugend musste Altmetall- und -papier sammeln und in den unteren Klassen wurde wieder der Gebrauch von Schiefertafeln statt Heften eingeführt.

Schon am 29. März 1933, also 2 Monate nach der Machtübernahme durch Hitler, wurde der Reichsluftschutzbund gegründet, ein sicheres Indiz dafür, dass wir systematisch auf den Krieg zusteuerten. Welcher normale Staatsbürger hätte damals an so etwas gedacht? Bereits im März 1934 wurden die Kinder in der Schule über Luftschutz belehrt, ein Lehrer zum Schulluftschutzwart ernannt, Boden und Keller der Schule entrümpelt, eine Kiste mit trockenem Sand mit Schaufeln und einer Axt auf dem Boden aufgestellt. Die Hauptabsperrstellen für Wasser, Gas und Elektrizität sollten gekennzeichnet und die Wege dorthin mit Pfeilen versehen werden, wie gesagt, das war im März 1934. Eigentlich hätten wir alle wissen müssen, was uns blüht, aber es wurde nicht richtig wahrgenommen. Wer konnte sich schon vorstellen, dass wir planmäßig in den Krieg geführt wurden?

Von nun an wurden regelmäßig Luftschutzübungen in der Schule durchgeführt und im Dorf das Feuerlöschwesen mit einer neuen gemeindeeigenen Löschspritze modernisiert. Es wurde für den Reichsluftschutzbund geworben und Lehrgänge für Jugendliche abgehalten, für die es dann auch eine Ausbildungsbescheinigung gab.

1937 wurde eine Reichsluftschutzwoche durchgeführt und der 2. Juni als Jugend-Luftschutztag bestimmt. Genützt hat das alles nichts. Der erste richtige Luftangriff auf eine Stadt ließ vor Entsetzen alles vergessen.

 

Großdeutschland

Dem Ausland gegenüber demonstriert Hitler Macht und Stärke.

1933 verlässt er den Völkerbund.
1934 wird der Wiederaufbau der Wehrmacht, Marine und Luftwaffe eingeleitet.
1935 sagt sich Hitler von den Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages los und führt die allgemeine Wehrpflicht ein. Im gleichen Jahr votiert das von Frankreich für 15 Jahre besetzte Saarland für Deutschland. Deutsche Soldaten rückten ein und wir sangen voll Begeisterung „Deutsch ist die Saar, deutsch immerdar..
1936 besetzen deutsche Truppen das entmilitarisierte Rheinland und die deutsche Luftwaffe greift mit ihrer Legion Condor in den spanischen Bürgerkrieg ein. Sie übt für den Ernstfall und in der Hitlerjugend sangen wir:

„Wir flogen jenseits der Grenzen mit Bomben gegen den Feind
Hoch über spanischer Erde, mit den Fliegern Italiens vereint.
Vorwärts, im Kampf sind wir nicht allein
Und die Freiheit soll Ziel unsres Kampfes sein!
Vorwärts, Legionäre!“

Als am 13. März 1938 die deutschen Truppen in Österreich einrückten, jubelte das ganze Deutsche Volk und für die gesamte Schuljugend wurde wieder ein Tag schulfrei angeordnet. Am 10. April 1938 wurde in Großdeutschland eine Volksabstimmung durchgeführt:

„Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler?“

In Rössing stimmten von 764 alle bis auf zwei dafür, im Deutschen Reich und in Österreich sahen die Ergebnisse ebenso aus. Ob die Wahlergebnisse in Deutschland und Österreich 1938 echt oder geschönt waren, weiß ich nicht. Aber fest steht, dass 1919 beim Friedensschluss nach dem ersten Weltkrieg, nach der Zerschlagung der habsburgischen Donaumonarchie Österreich-Ungarn, dem Rest-Österreich der Name Deutsch-Österreich von den Alliierten untersagt wurde. Ebenso untersagt wurde der durch die Wiener Nationalversammlung nach einer Volksabstimmung bereits beschlossene Anschluss an das Deutsche Reich. Es ist nicht so, wie es heute oft in den Medien dargestellt wird, dass die meisten Österreicher den Anschluss nie wollten. 1919 war er bereits beschlossene Sache und wurde nur durch die Siegermächte verboten

Als Hitler zum 1. Okt. 1938 den Anschluss des Sudetenlandes fordert, entsteht eine schwere europäische Krise. Der engl. Premierminister Chamberlain und der französische Ministerpräsident Edouard Daladier treffen sich in München und geben nach. Aber im so genannten Münchner Abkommen. vom 29. September wird zur Bedingung gemacht, dass dies die letzte territoriale Forderung Hitlers ist und er geht darauf ein.

Aber schon am 15. März 1939 bricht Hitler das Münchener Abkommen und er zwingt die Tschechen unter Androhung von Gewalt, das deutsche Protektorat Böhmen und Mähren anzuerkennen und am 23. März 1939 erfolgt der Einmarsch ins Memelgebiet, nach Druck auf Litauen.

Es ist ein Wunder, dass das noch ohne Blutvergießen abgelaufen ist.

Aber das Maß ist jetzt endgültig voll. Hitler hält sich an keine Verträge und das internationale Vertrauen in ihn und seine Politik ist damit endgültig zerstört.

 

Kriegsbeginn

Als Hitler dieselben Spielchen mit Polen fortsetzt, stehen England und Frankreich zu ihren Bestandsgarantien für Polen und als Hitler am 1. September 1939 die Grenzen zu Polen überschreitet, ist der Krieg da. Kein Jubel in der Bevölkerung wie 1914. Unsere Eltern sind entsetzt, zu nah ist noch die Erinnerung an den Krieg vor gerade 20 Jahren. Die Menschen sind bedrückt.

In der Schulchronik wurden dem Kriegsausbruch nur zwei Zeilen gewidmet:

„Am 1. September 1939 (Kriegsbeginn) wurde der Unterricht auf behördliche Anordnung geschlossen und am 9. September wieder aufgenommen.“

Das Leben veränderte sich. Die jungen Männer wurden eingezogen und die Bauern mussten Pferde abliefern. Am 28. August 1939, zwei Tage, bevor geschossen wurde, wurden schon Lebensmittelkarten eingeführt. Butter und Sahne waren schon vor dem Kriege knapp. Dann wurde die totale Verdunkelung angeordnet, um feindlichen Flugzeugen keine Orientierung zu ermöglichen. Die Luftschutzwarte kontrollierten, ob auch nicht der kleinste Lichtschein nach außen drang. Luftschutz- und Splittergräben wurden angelegt, weil viele Häuser keine Keller hatten. Ich erinnere mich, dass jeder auch eine Volksgasmaske haben musste, denn im Ersten Weltkrieg wurde ja auch Giftgas eingesetzt.

Die Bauern wurden Selbstversorger. Aber die Menschen auf dem Lande hatten immer noch etwas mehr als das, was es auf die Lebensmittelkarten gab. Die meisten hatten Gärten, fütterten ein paar Kaninchen oder Hühner. Da konnte man die Kalorien nicht so genau kontrollieren. Für die Reichdeutschen gab es während des Krieges im Großen und Ganzen immer noch einigermaßen zu essen, so richtig gehungert haben wir erst nach dem Krieg.

Die Schuljugend musste Kartoffelkäfer suchen, Heilkräuter sammeln und trocknen, und von den größeren Höfen und Gütern wurde die HJ zur Erntehilfe angefordert und auch die Mädchen zum Hacken von Gemüse oder Roten Beten.

 

Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.

Der Arbeitskräftemangel auf den Bauernhöfen, wo vielfach die Frauen alleine wirtschaften mussten, sollte durch Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus den eroberten Gebieten ausgeglichen werden.

Die weiblichen Hilfskräfte schliefen in der Regel auf den Höfen. Für die Bauern gab es strenge Auflagen für die Behandlung dieser Menschen. Sie durften z. B. nicht mit ihnen am gemeinsamen Tisch essen. Aber da das vielen zu umständlich war und sich auch gewisse zwischenmenschliche Beziehungen entwickelt hatten, wurde z. B. beim Ortsbauernführer Kämpfer dem Buchstaben des Gesetzes Genüge getan, indem vor den viereckigen Familientisch in der Küche eine runder für die Fremdarbeiter gestellt wurde. Denen ging es in der Regel beim Bauern erträglich.

Gertrud Könneke, geb. Sander, die langjährige Vorsitzende der Landfrauen beschreibt ihre Erlebnisse mit den Polen auf ihrem Hof; mit denen sie bis zu ihrem Tode noch Kontakt hatte, das heißt, dass diese dort sehr ordentlich behandelt wurden.

Intime Beziehungen zwischen deutschen Frauen und ausländischen Arbeitern, vor allem den Ostarbeitern. waren streng verboten. Ein extremer Fall, allerdings nicht aus Rössing, ist mir bekannt. In Diespeck bei Neustadt Aisch erwartete eine deutsche Frau ein Kind von einem Polen. Da haben fanatische Nazis sie fast nackt durch den Ort getrieben, und die arme Frau hat sich am nächsten Tag das Leben genommen.

Aber nicht alle sind mit ihren Polen gut umgegangen. Der Fall eines Rössinger Bauern ist mir bekannt, der seine polnischen Zwangsarbeiter ausgesprochen schlecht behandelte und sich trotzdem nicht scheute, ein Polenmädchen zu mißbrauchen, die dann ein Kind von ihm erwartete. Mir wurde berichtet, dass er dafür nach dem Einmarsch der Amerikaner dann vorn auf einem Kübelwagen öffentlich durch das Dorf gefahren wurde.

Den Zwangsarbeitern in der Industrie oder den Kriegsgefangenen in Lagern, z. B. in Ahrbergen, die in der dortigen Munitionsfabrik arbeiten mussten, denen ging es sehr schlecht. Als einmal eine solche Gruppe von ihrer Bewachung an der Langen Wanne an einem großen Haufen Roter Bete entlanggeführt wurde und sie sich vor Hunger auf die Knollen stürzte, wurden sie jämmerlich zusammengeschlagen und von ihren Kameraden gestützt und weiter mitgeschleppt, berichtete mir eine Augenzeugin. Mancher steckte ihnen allerdings auch was zu Essen zu, wenn sie um Brot bettelten. Denn alles, was dem nationalsozialistischen Rassenwahn im Wege war, wie Juden und die sog. slawischen Untermenschen der unterworfenen Völker, wurden nur minimal ernährt und ihre systematische Vernichtung auch auf diese Weise betrieben.

Auf dem Kreipeschen Hof versorgten sich die Zwangsarbeiter selbst und dort wurden sie auch satt. Als die Amerikaner einmarschiert waren, sollten die Zwangsarbeiter in ihre Heimat transportiert werden. Da hat Frau Kreipe ein russisches Pärchen, das sich hier gefunden hatte und hier bleiben wollte, für 14 Tage mit Verpflegung versorgt und sie haben sich im Wald versteckt, bis die Gefahr vorüber war. Jenka Laskowski, wir alle kennen sie. Denn die meisten russischen Heimkehrer, Soldaten oder Zwangsarbeiter, wurden von den Russen liquidiert oder nach Sibirien deportiert.

 

Moritz Blumenthal und seine fünf Söhne
Die jüdische Familie Blumenthal in der Maschstraße, heute Friseur Müller, wohnte schon seit 1852 in diesem Haus und betrieb mehrere Generationen eine Schlachterei, natürlich nur für koscheres Fleisch. Moritz Blumenthal und seine Frau Sophie hatten 5 Söhne, alle geboren zwischen 1890 und 1900.1907 baute Moritz Blumenthal, einen Kühlturm, der heute noch bei Müllers auf dem Grundstück steht. Er wurde im Winter mit Eis befüllt, darin wurde das Fleisch den ganzen Sommer über kühl gehalten. Alte Rössinger erinnern sich, dass Blumenthal im Winter, wenn es fror, bis zu 15 Leute mit Eisschneiden auf dem Rössingteich beschäftigte, da war er ein begehrter Arbeitgeber. Moritz Blumenthal lebte bis 1930 und seine Frau bis 1938, sie ist die letzte, die auf dem jüdischen Friedhof beerdigt wurde.

Von den 5 Söhnen verließen Hermann und Gustav Rössing schon früh, sie wurden wohlhabende Kaufleute und entkamen rechtzeitig nach Amerika, teilweise leben die Nachfahren heute wieder in Deutschland. Karl und Willi Blumenthal waren im Dorf in den Vereinen integriert. Sie waren beide Schlachter und Karl war einer der besten Sänger im Gesangverein Concordia und Willi war Mitglied im Club Frohsinn und Robert verzog vor dem Krieg nach Hannover.

 

Terror gegen Familie Blumenthal

Aber nach der Machtübernahme am 1. April 1933 verkündete Julius Streicher den organisierten Judenboykott. Wer beim Juden kauft ist ein Volksverräter, so stand es im Hetzblatt der SA, Der Stürmer und an allen Litfasssäulen.

Das blieb nicht ohne Wirkung, Blumenthals Schlachterei ging zurück. Am 9. November 1938 im Zuge der Reichskristallnacht, als die Synagogen brannten und in einer organisierten Aktion die jüdischen Geschäfte und Wohnungen demoliert und geplündert wurden, wurden auch Blumenthals ein Opfer der Hetze. Augenzeugen berichten, dass ein ortsfremder Autofahrer aus Richtung Nordstemmen kam, vor ihrem Haus anhielt und mit der Anlasserkurbel die geschlossenen hölzernen Fensterläden und die Scheiben zerschlug. Ein paar Jungens, die das mit angesehen hatten, fanden das aufregend und schmissen noch ein paar Steine hinterher. Die Familie Blumenthal saß total verängstigt auf ihren Betten im Schlafzimmer.

Ein Augenzeuge berichtete, die Familie Blumenthal hätte dann einen halben Tag vor ihrem Hause stehen müssen mit einem Schild um den Hals: Wir sind Juden, und die SA hätte dabei gestanden. Aber dieser Vorfall hat sich sehr wahrscheinlich in Nordstemen und nicht in Rössing zugetragen. Daher berichte ich das mit allem Vorbehalt, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass Augenzeugen über dieselben Dinge oft die unterschiedlichsten Darstellungen geben. Nach Aussagen anderer Mitbürger hat man sie damals auch abgeholt ins KZ, ins Konzentrationslager, aber nur vorübergehend.

1935 waren den Juden ihre Staatsbürgerrechte aberkannt worden. Punkt 4 in Hitlers Parteiprogramm lautete: Volksgenosse kann nur sein, wer arischen Blutes ist, also kann kein Jude Volksgenosse sein. Damit waren Juden rechtlos wie im Mittelalter und unbegrenzt besteuerbar. Nach der Reichskristallnacht wurden sie mit einer Sondersteuer belegt als Strafe dafür, dass der Jude Herschel Grynspan in Paris den deutschen Legationssekretär Ernst vom Rath erschossen hatte.

Viele Juden bemühten sich um Auswanderung, dabei wurde ein Teil ihres Vermögens als Reichsfluchtsteuer einbehalten. Aber auch das Ausland sperrte sich gegen die Aufnahme vor allem armer Juden. Verwandte mussten Bürgschaften übernehmen, andere hatten kaum eine Chance auszureisen.

1936 durften jüdische Kinder schon nicht mehr am Schulsportfest teilnehmen und ab 1937 wurde ihnen der Besuch der allgemeinen Lehranstalten ganz verboten. Von den beiden Kindern Hanna, Jahrgang 1928 und Hans-Jürgen Blumenthal Jahrgang 1931, konnte Hanna noch 3 Jahre die Rössinger Schule besuchen. Die jüdische Kultusgemeinde in Hannover versuchte, durch kulturelle Maßnahmen die weitere Schulbildung der Kinder zu übernehmen und Hanna wurde am 7. April 1937 nach Hannover abgemeldet.

Nach dem 9. November 1938 lebten Blumenthals ganz unauffällig und zurückgezogen im Dorf, Karl Blumenthal fand eine Stelle als Arbeiter im Betonwerk Robert Grasdorf in Hannover Wülfel.

Am 24 Juni 1939 ergingen vom Landrat in Springe Verkaufsaufforderungen an alle jüdischen Familien betreffend ihrer Immobilien. Aber schon am 6. Juni 1939 hatte Blumenthal sein Haus an Otto Altendorf verkauft. Bei diesen Zwangsverkäufen mussten die arischen Käufer an den Staat zahlen, doch von der Verkaufssumme erhielten die Juden nur einen Bruchteil, das meiste behielt der Staat ein. Daher kamen nach dem Krieg die Differenzen zwischen den Alteigentümern und den Käufern, die in der Regel alles noch einmal bezahlen mussten.

Trotz ihres guten früheren Leumunds mied man die Familie. Es gab zwar auch Beweise von Mitgefühl und nachbarschaftlicher Hilfe, aber nur ganz verstohlen, wenn man ihnen an der Hintertür beim Melken heimlich eine Kanne mit Milch füllte, jeder hatte Angst, als Volksverräter zu gelten. Die Familie des Schäfers Schmieding stand Höllenängste aus, weil dieser für die Blumenthals ein Schaf geschlachtet hatte. Eine Familie Harke, früher Leinkamp, hatte Blumenthals schon einmal eine Ziege zum Schlachten verkauft. Eines Abend klopfte es verstohlen ans Fenster: Hallo, Karl, was gibt es? Händeringend bat Karl Blumenthal: Kannst Du mir nicht noch einmal eine Ziege verkaufen? Unter Tränen berichtete mir Herr Harke jetzt, daß sein Opa dem Karl aber keine Ziege wieder verkaufen konnte, weil bei ihm vier Ziegen registriert waren, eins war ein Lamm und bei der Kontrolle mußte die Anzahl stimmen. Herr Harke war damals ein kleiner Junge und ging mit Hanna Blumenthal in eine Klasse. Er schwärmte heimlich für sie, denn sie sah so hübsch aus mit ihren schwarzen Haaren, so wie er sich immer Schneewittchen vorstellt.
.Blumenthals durften in ihrem Haus nur noch eine kleine Küche und zwei Zimmer bewohnen. Eine Familie Heitmüller und Frau Lipinski geb. Sievers waren in ihr Haus eingezogen und besserten, so weit sie konnten, die kärglichen jüdischen Lebensmittelrationen ab und zu mit einem Topf Mittagessen auf, wie sie mir berichteten.
Die Deportation

Dann folgte die Deportation. Der Landrat des Kreises Springe erhielt am 21. März 1942 ein Schreiben von der Geheimen Staatspolizei Leitstelle Hannover mit  einem großen Stempel: Eilt! Vertraulich! Betr. Abwanderung von Juden.

Als ich diese Dokumente im Niedersächsiches Staatsarchiv Hannover bei meinen Recherchen vor einigen Jahren in die Hände bekam, wurde mir ganz schlecht und ich konnte Nächte lang nicht schlafen, so erschüttert war ich.

Es war ein vierseitiges Schriftstück, dessen erster Teil sich mit den Auswahlkriterien für die Judendeportation befasste, also Alter und Arbeitsfähigkeit. Der zweite Teil betraf den praktischen Ablauf des Abtransportes im LKW nach Ahlem und den weiteren Zugtransport nach Polen.

Alles minutiös organisiert. Dies ist ein Ausschnitt aus dem Schreiben.

Jeder zu evakuierende Jude muss mitbringen:

1.      Einen Koffer oder Rucksack mit Ausrüstungsstücken bis 50 kg. (kein sperriges Gut),
2.      Vollständige Bekleidung (ordentliches Schuhwerk) Bettzeug mit Decke (keine Matratzen), Transportverpflegung für etwa 3 Tage, Essgeschirr (Teller oder Topf mit Löffel).

Jeder abzuschiebende Jude hat sein Bargeld, seine Wertpapiere, Sparkassenbücher, Schmucksachen, Ringe, Halsketten, Armbänder bei seiner Festnahme bei sich zu führen. Alle diese Gegenstände werden ihm, bis auf die Eheringe, bei der Durchsuchung der Koffer und Leibesvisitation im Sammellager Ahlem abgenommen. Alles bewegliche und unbewegliche Vermögen der abzuschiebenden Juden wird mit Rückwirkung vom 1. März 1942 staatspolizeilich beschlagnahmt und eingezogen. Die Verwertung des eingezogenen Judenvermögens wird der Oberfinanzpräsident durchführen. Ehetrennung sowie Trennung von Kindern bis zu 14 Jahren von den Eltern ist zu vermeiden.

Am 28. März 1942 wurden Karl und seine Frau Henny, mit beiden Kindern, 14 und 11 Jahre alt, nur mit dem, was sie tragen konnten und einem Rucksack als Gepäck, per LKW aus Rössing abgeholt. Sie hatten geglaubt, sie kämen in eine andere Wohnung, vielleicht in ein Judenhaus nach Hannover, wo die Juden zusammengezogen wurden.  Es ging auch das Gerücht, daß die Juden im Osten, in Polen in einem Gebiet nur für sich angesiedelt werden sollten. Und Frau Blumenthal hat ihre Nähmaschine, die sie ja nicht mitnehmen konnte, in die Gepäckaufbewahrung zum Bahnhof Barnten gebracht. Eine Nachbarin sollte sie ihr nachschicken, wenn sie in der anderen Wohnung wären. Dann könnte sie vielleicht durch Nähen noch etwas dazuverdienen. Diese armen Menschen hatten also irgendwie noch Hoffnung. Sie ahnten nicht, was ihnen wirklich bevorstand. Das hätte sich ja auch kein normaler Mensch vorstellen können. Die Maschine hat noch sehr lange auf dem Bahnhof gestanden.

Aber die Familie wurden nach Ahlem, der früheren israelitischen Gartenbauschule gebracht und einen Tag später, nachdem man ihnen dort alles Geld und ihre Wertsachen bis auf den Ehering, abgenommen hatte, vom Bahnhof Fischerhof mit einem Sammeltransport nach Trawnicki in Polen abtransportiert. Die Zielangabe Trawnicki 35 km östlich von Lublin war kaum der endgültige Bestimmungsort. Es war eine Reise ohne Wiederkehr, wie wir alle wissen. Ein Rössinger, Julius Algermissen, hat Karl Blumenthal noch einmal im Warschauer Ghetto getroffen. Er war in einem erbärmlichen Zustand und Algermissen wollte ihn ansprechen. Aber Karl sagte nur: „Geh weiter, geh weiter“. Am nächsten Tag wollte Algermissen ihm etwas zu Essen bringen, aber er hat ihn nicht wiedergefunden. Das war das letzte Lebenszeichen. – Der Hausrat von Blumenthals, den sie nicht mitnehmen konnten, wurde aus dem Hause geschafft und auf dem Hof aufgebaut. Dort wurde er verkauft oder versteigert und der Erlös ging an den Staat.

Der Bruder Willi Blumenthal wurde bei Schanzarbeiten an der Normandieküste eingesetzt, bis er nicht mehr arbeiten konnte. Dann sollte er in den Osten transportiert werden, denn die richtigen Vernichtungslager lagen fast alle in Tschechien und in Osteuropa, weniger auf deutschem Boden. Er hatte sich eine Zange organisieren können, mit der er bei Nacht den Viehwaggon öffnete und ließ sich in Belgien aus dem fahrenden Zug fallen. Belgische Bauern fanden und versteckten ihn bis Kriegsende, er ging dann nach Amerika, wo er 1983 starb. Aber einige Jahre vorher ist er noch einmal hier in Rössing gewesen und hat mit Familie Freimann, die den jüdischen Friedhof gekauft hatte, und dem Vater von Fred Scheibe gesprochen. Von diesen lebt heute aber auch niemand mehr.

Der fünfte der Blumenthalbrüder, Robert Blumenthal und seine Frau, wurden am 15. Dezember 1941 aus einem Judenhaus in der Josephstraße in Hannover, wo die jüdischen Familien zusammengezogen wurden, nach Riga transportiert und dort sind sie auch umgekommen.

Alle Schriftstücke der Geheimen Staatspolizei, die sich mit der Deportation der Juden befassten, trugen den Stempel: Streng geheim, nicht zur Veröffentlichung geeignet. Offiziell kamen sie ja alle zum Arbeitseinsatz nach Polen und niemand wusste genau, wo sie blieben. Trawnicki war auch nur ein Kennwort. Die Begleitmannschaften blieben meist nur ein kurzes Stück bei ihnen, so dass keiner den Leidensweg der Juden von Anfang bis Ende mit erlebte.

Ein Nachfahre von Gustav Blumenthal hat sich in diesem Frühjahr telefonisch bei mir gemeldet. Wir haben lange miteinander gesprochen und er hat mir eine Kopie seiner Familiengeschichte überlassen. Daher bin ich so genau informiert.

Der jüdische Friedhof in Rössing wurde zwangsweise von der jüdischen Gemeinde an Familie Freimann für 420 RM verkauft. Die Frau von Moritz Blumenthal, Sophie war die letzte, die 1938 auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt wurde. Freimanns mussten den Friedhof nach dem Krieg der jüdischen Gemeinde entschädigungslos wieder übereignen. Heute kümmert sich die jüdische Gemeinde darum.

 

Aus der jüdischen Geschichte

Wenn man sich näher mit der Geschichte der Juden befasst stellt man fest, dass ihre bürgerliche Sonderstellung in fast allen europäischen Ländern durch obrigkeitliche Judenordnungen festgelegt war. Im Kurfürstentum Hannover durften sie kein Haus, kein Land, keine Immobilien besitzen. Sie durften kein Handwerk erlernen, da die handwerklichen Zünfte auf den christlichen Bruderschaften des Mittelalters basierten, die keine Juden aufnahmen. So wandten sie sich geistigen Berufen zu, wurden Juristen, Ärzte und Künstler. Handel und Geldverleih, den das kirchliche Zinsverbot den Christen untersagte, lagen in ihren Händen, und sie entwickelten darin besondere Fähigkeiten, die sie als Finanzberater an den europäischen Fürstenhöfen unentbehrlich machten. Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Judengesetze gelockert wurden, und sie auch Immobilien als Sicherheiten für ihre Darlehen nehmen durften, brachte es ein Teil der Juden zu sehr großen Vermögen. Und es ging den Nazis vor allem um die Aneignung jüdischer Vermögenswerte. Mit dem Wissen von heute ist mir klar, dass die gebrauchten Möbel aus Auktionshäusern, die den Ausgebombten im Krieg 1943 recht günstig zum Kauf angeboten wurden, aus enteignetem jüdischem Besitz stammten.

Das Geld für die Rüstung und Hitlers Krieg stammt zum großen Teil von den enteigneten Juden Europas, der Arbeit von Zwangsarbeitern und den unterworfenen Völkern. Im März diesen Jahres habe ich eine Fernsehsendung über die Besetzung Österreichs 1938 gesehen, darin wurde berichtet, dass die beschlagnahmten Vermögen der jüdischen Geschäftsleute allein in Wien das anderthalbfache des österreichischen Staatshaushaltes für ein ganzes Jahr ausmachten.

In einer weiteren sehr interessanten Fernsehsendung vor einigen Monaten berichtete eine alte jüdische Dame von ihrem Prozess gegen den Staat Österreich um die Rückgabe von fünf Bildern des jüdischen Wiener Malers Gustav Klimt, die ihrer sehr wohlhabenden Familie in Wien gehört hatten, und die ihnen von den Nazis gestohlen worden waren. Eins davon war ein Porträt von Adele Bloch-Bauer, ihrer Tante, die von Klimt mehrfach gemalt worden war. Diese trug auf dem sehr bekannten goldgrundigen Gemälde ein wundervolles fünfreihiges Perlenhalsband mit einer kostbaren Schließe aus Diamanten und Rubinen, das die Dame 1938 den Nazis mit ihrem gesamten wertvollen Schmuck ausliefern musste. Dieses kostbare Halsband trug später die Frau von Hermann Göring: Emmi Sonnemann. Aber über seinen weiteren Verbleib ist nichts bekannt.

Die Dame gewann den Prozess gegen den Staat Österreich, sie bekam die 5 „Klimt-Bilder“ zurück und verkaufte sie in den USA aus einer Auktion für 300 Mio. Dollar.

Der Niedergang

Ab 1943, nach der Schlacht bei Stalingrad, als die ganze niedersächsische 6. Armee eingekesselt und vernichtet wurde, 90 000 Mann in Gefangenschaft kamen, von denen nur noch 5 000 nach dem Krieg zurückkehrten, traf auch die Landbevölkerung die ganzen Härte des Krieges. Die Zahl der Gefallenen stieg rapide an. Der Ortsgruppenleiter musste den Familien die Todesnachricht überbringen: Gefallen für Führer und Vaterland. Rössing hatte im Zweiten Weltkrieg über 90 Tote zu beklagen, abgesehen von den Angehörigen der Vertriebenen und Flüchtlinge, die erst später nach Rössing kamen. Da machte sich schon Verbitterung breit. Insgeheim glaubte niemand, vielleicht außer ein paar Fanatikern mehr an die Wunderwaffe und den Endsieg, den man uns noch einreden wollte. Aber um Himmels Willen durfte man das nicht äußern. Man riskierte, denunziert zu werden und auch ins KZ zu wandern. Kleuker, Lange Straße 16 war auch mal eine Zeitlang verschwunden. Aber nach dem Brandbombenschaden an seinem Haus war er wieder zurück.

Die Evakuierten aus den bombardierten Städten im Rheinland erhöhten die Zahl der Gastschüler 1943 in Rössing um 14.

Am 22. September 1943 war ein starker Fliegerangriff auf Hannover, auch auf Rössing fielen viele Stabbrandbomben und eine Luftmine in die Gärten auf dem Kirschenbrink. Schäden an Dächern, Fenstern und Türen.

Es brennen ab laut Schulchronik I:

1 Arbeiterwohnhaus zu Kirchstr. 13 und ein Arbeiterhaus zu Kirchstr. 33,
6 Scheunen  brennen ab:
·        Nr. 5, Lange Str. 6, Bauer Ernst Lampe
·        Nr. 60, Kurt-Schumacher-Platz 2, Bauer August Baxmann
·        Rittergut II, Brendecke (Kreipe), Lange Str. 17/18
·        Nr. 24, Bauer Ernst Kasten, Lange Str. 27
·        Nr. 22, Fr. Hesse, (jetzt Schlechte) Lange Straße 21
·        Rittergut I, eine Feldscheune

7 kleinere Brände, die gelöscht werden:

·        Nr.  71 August Siede, Lange Str. 9
·        Nr.  58 H. Baxmann, Lange Str. 11, die Schmiede und das alte Wohnhaus
·        Nr.152 Fr. Kleuker, Lange Str. 16
·        Nr.160 Baumgarten/Wolter, Lange Str. 45
·        Nr.  25 E. Köhler, Lange Str. 1971 abgerissen
·         Nr.  24 E. Kasten, Lange Str. 24, Wohnhaus
·        Nr.  16 Hermann Dollenberg, Bäckerei, Lange Str. 22, seit 1959 Binnewies
(in der Schulchronik nicht erfasst, vom Eigentümer selbst gelöscht)

Am 9. Oktober 1943 kommen nach einem sehr schweren Luftangriff auf Hannover, der über 50% der Häuser vernichtete, mehr als 100 rauch- und rußgeschwärzte Bombengeschädigte mit den Resten ihrer Habe nach Rössing, die in Privatquartieren untergebracht werden müssen.

Es wird eng in Rössing und die Lebensmittelversorgung wird knapper. Durch die armen Menschen, die nichts mehr haben, gibt es Konflikte. Angst vor Denunziation musste jeder haben. Schwarzschlachten war gefährlich, sollte sogar mit dem Tode bestraft werden, ein missgünstiger Nachbar, der das mitbekam und schon war man geliefert.

 

Der Zusammenbruch

Nach blutigen, verlustreichen Kämpfen bei der Landung der Alliierten im Juni 1944 in der Normandie kam der Zusammenbruch. Die alliierten Truppen näherten sich der Reichsgrenze. Im September1944 kommen fast 350 Menschen aus dem Raum Aachen nach Rössing, die wegen drohender Kämpfe mit den Amerikanern umquartiert und untergebracht werden müssen. Auf dem Hof der Witwe Plötze, Kirchstraße wird in der Waschküche eine Gemeinschaftsküche eingerichtet und die schulpflichtigen Kinder mit in der Schule unterrichtet.

Vor Weihnachten bekommt Rössing dazu noch mehrere Wochen Wehrmachtseinquartierung, weil hier im Raum eine neue Einheit zusammengestellt wird. Die Weihnachtsferien werden wegen Kohlenmangel bis zum 1. Februar verlängert.

Am 22. Januar werden für Hitlers letztes Aufgebot, den Volkssturm, alle im Dorf befindlichen Waffen registriert.

Es sind vier italienische Polizeikarabiner, fünf Kleinkalibergewehre, 7Jagdgewehre und 8 Gewehre von 1871 und 400 Schuss Kleinkalibermunition.

Im Februar und März wird der feindliche Luftkrieg noch verschärft, die Luftangriffe auf Hildesheim und Hannover haben dauernden Fliegeralarm zur Folge. Einmal wieder durchschlafen können ist ein Traum. Bürgermeister Ernst Glockemann führt Buch über die Dauer der Fliegeralarme. Bei dem Angriff am 22. März 1945, als Hildesheim zerstört wurde, waren es 5 Stunden, die die Menschen im Luftschutzkeller verbrachten.

Die letzten truppentauglichen Pferde wurden requiriert.

Am 31. März 1945 fällt ohne vorherigen Bombenalarm eine einzelne Fliegerbombe ca. 300 m vom Ortsausgang Richtung Nordstemmen und verletzt den Ortsbauernführer Fritz Kämpfer, der am nächsten Tag im Gronauer Krankenhaus seinen schweren Verletzung erliegt.

 

Dann kam das Ende

Am 06. April 1945 notiert Bürgermeister Ernst Glockemann:

„Es treffen hier 230 Russen, ehemalige Gefangene, und 40 Italiener ein. Diese werden verpflegt. Um 5 Uhr telefoniert der Bürgermeister aus Nordstemmen, dass die Panzerspitzen (Amerikaner)in Elze einmarschieren. Ich setzte mich mit dem Volkssturmführer, Bauer Ernst Kasten, und mit dem Kommandanten der Gefangenen, einem Hauptmann in Verbindung und bat ihn, die Gefangenen sofort weiter zu führen. Dieser lehnte ab. Gegen 6 Uhr gingen wir nochmals zu ihm. Der Herr Hauptmann war aber inzwischen ausgerückt und hatte die Russen hier gelassen. Mit dem Volkssturm habe ich dann die Gefangenen weiter nach Harsum bringen lassen. Nachts um 2 Uhr waren die Amerikaner in Schulenburg eingerückt.“

Die Kriegsgefangenen waren in einer Scheune auf dem Hof Windel, später Kroos, Kirchstraße 11 untergebracht. Aber sie wollten freiwillig nicht noch weiter marschieren. Der Rittergutspächter Thielemann und sicher noch einige andere vertrieben mit Mistgabeln die armen Kerle aus Rössing.

Gott-sei-dank war das der einzige Einsatz des Volkssturms. Rössing wurde nicht mehr verteidigt. Die Bevölkerung hatte begründete Angst, 270 ehemalige ausgehungerte Gefangene im Dorf zu haben.

Am 7. April vormittags besetzten amerikanische Truppen, die aus Richtung Schulenburg gekommen waren, unser Dorf kampflos. Ein Offizier mit vier Mann in einem Jeep durchfuhren das Dorf, wenig später erschienen Quartiermacher und beschlagnahmten 10 ganze Häuser und 5 Wohnungen, die Bewohner mussten räumen und wenig später wimmelte es von amerikanischen Soldaten, Die von deutschen Soldaten schon zur Sprengung vorbereitete Leinebrücke hatten sie unzerstört überquert.

Am Leinkamp wurden Geschütze in Stellung gebracht und schossen Richtung Giesen-Ahrbergen.

Im Hause des ehemaligen Ortsgruppenleiters Steinhoff, der 1942 gefallen war, verbrannte seine Familie alle Unterlagen aus der NS-Zeit.

Louis Hümpel als ehemaliger Ortsgruppenleiter, und Lehrer Meyn, bekannt als überzeugter Nationalsozialist, Walter Blume, der angeblich der SS angehört hatte, Bürgermeister Ernst Glockemann, Siebke aus der Kirchstraße und wohl noch einige andere, wurden von den Amerikanern inhaftiert, kamen aber nach einiger Zeit wieder nach Hause, außer Louis Hümpel, der an einem Magenleiden verstorben war. Sie mussten sich dann wohl noch einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen.

Alle aus Rössing stammenden Soldaten, die beim Kriegsende schon zu Hause waren, oder kurz danach ohne gültige Entlassungspapiere in der Heimat eintrafen, Urlauber, Verwundete, Versprengte wurden von den Besatzungsmächten wieder erfasst und abtransportiert, manche wurden wohl auch denunziert. Einige kamen erst nach drei Jahren wieder nach Hause. Untertauchen war auch schwierig damals, denn dann bekam man keine Lebensmittelmarken.

 

Als der „braune Spuk“ zu Ende war,

und das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen nach dem Kriege bekannt wurde, konnten wir es gar nicht fassen. Die Geheimhaltung hatte gut funktioniert, aus Angst vor Strafe. Wer nicht selbst betroffen war, keine jüdischen Angehörigen, Brüder, Männer oder Väter hatte, die mit eigenen Augen gesehen hatten, was vor allem im Osten und in den Gaskammern passierte, so wie ich zum Beispiel, der wusste wirklich nichts davon. Die Vernichtungslager waren meistens nicht auf deutschem Boden, auch nicht in Bergen-Belsen. In diesem Lager starben zwar viele tausend Menschen während der Endphase des Krieges, aber sie waren vor der sich nähernden Front in Deutschland dorthin zusammen getrieben worden. In dem Chaos war die ganze Infrastruktur restlos zusammengebrochen, keine Unterkunft, keine Verpflegung, aber Gaskammern gab es dort nicht.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dieser Mensch, Adolf Hitler selbst, der Millionen Menschen in den Tod und ins Elend getrieben hat, 39 auf ihn geplante Attentate überlebt hat, die teilweise nicht zur Ausführung kamen, weil er ständig seine Pläne änderte, zu spät zu Veranstaltungen kam oder sie früher verließ oder sie überlebte, wie am 20. Juli 1944. Es war wirklich so, als ob die von ihm so oft zitierte Vorsehung die Hand über gehalten hätte.

Wir haben jetzt schon über 60 Jahre Frieden, so eine lange Friedensperiode wie noch nie in unserer Geschichte, also können unsere Regierungen doch nicht so schlecht gewesen sein. Ich hoffe und wünsche, dass es immer so bleibt, dass wir wachsam sind, nicht nur auf dem rechten, sondern auch auf dem linken Auge. Die Demokratie mag ihre Schwächen haben, aber es ist immer noch die beste Regierungsform, die wir kennen. Und damit möchte ich meine Ausführungen schließen und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Quellen

Literatur:
Anmerkungen zu Hitler
Sebastian Haffner 1978
Alltag im Dritten Reich, so lebten die Deutschen 1933-45
Frank Grube, Gerhard Richter; 1982
Die verdammte Pflicht, Erinnerungen 1932 bis 1945
Alexander Stahlberg 1996
Kindheit in Ostpreußen
Marion Gräfin Dönhoff, 1988
Erinnerungen eines alten Ostpreußen
von Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten 1991
Hitlers Wien, Lehrjahre eines Diktators,
Brigitte Hamann 1996
Der Zweite Weltkrieg, Wendepunkt der deutschen Geschichte
Stephan Burgdorff/Klaus Wiegrefe, (Hg.)2007

 

NHSA Hannover:

Sign. Hann 174, Springe Nrn. 162-164
Judendeportationen in Rössing

Dorfarchiv Rössing
Schulchronik Band II
Karton   6 Nrn. 4/5, Ortsratsprotokolle
Karton 18 Familienchronik der Familie Blumenthal,
Akten des Landkreises betr. Deportationen
Karton 33 Originalzeitschriften zur nationalsoz. Jugenderziehung
Hilf mit, Elternwarte, Reden an die deutsche Frau, usw.
Karton 37 Rössing nach der Machtübernahme 1933 Nr. 1/2/3
Vereinsakten, Wahlergebnisse

Wikipedia:

Infos der Bundeszentrale für politische Bildung
Hitlers Weg zur Macht, der Versailler Vertrag, Ruhrkampf, Hitlers 25-Punkte-Programm, Ermächtigungsgesetz, Gleichschaltung, Reichs erbhofgesetz, RAD, NS Organisationen, Hitlerjugend, Holocaust,
Attentate auf Hitler, u.s.w.

 

Um der Wahrheit willen möchte ich noch erwähnen, dass die Bildunterschrift unter meinem Bild in der Hildesheimer Allgemeinen vom 8. Okt. 2008 so nicht richtig ist. Ich musste meine Jungmädelzeit in Hannover nicht absolvieren. Ich war Ostern 1936 ganz freiwillig eingetreten, weil ich das toll fand und sonnabends lieber Jungmädeldienst machte als zur Schule zu gehen. Ich wurde auch eine kleine Jungmädelführerin, aber als ich 16 war, hatte ich einfach keine Lust mehr. Tanzstunde, Berufsausbildung, Pflichtjahr zu Hause und im Geschäft, mein Vater war im Krieg, Chemieschule, das reichte mir. Ich hatte eine verständnisvolle Gruppenführerin, die führte mich als z. b. V. – zur besonderen Verwendung – noch in einer Liste. Als ich dann eines Tages zum Untergau befohlen wurde, um mich wieder irgendeiner Organisation anzuschließen, konnte ich das rausschieben bis nach dem Examen als Chemotechnikerin und dann war der Krieg zuende. Es passte mir einfach nicht, die wenige Freizeit auch noch nach Vorschrift zu verbringen. Ich war kein Widerständler, ich habe mich schlicht und einfach gedrückt.

 

 

Heimatpflege Rössing

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Übrigens: Und Bilder können auch eingefügt werden:
Nur ein Beispiel wie man sich einbingen kann.... Wir werden sehen wohin die Fahrt geht…. mit aktiver Hilfe jedenfalls schneller (Foto: Gerhard Fuest). Nicht nur alte Texte und Bilder sind interessant. Die neuen Fotos und Texte von heute sind übermorgen die Bilder von „früher“, Bilder die man noch selber erlebt hat….
(Gerhard Fuest)